Behindertenpädagogik: Fragen der Zeit und zum »Zeitgeist«

Ein Interview vom 19. April 2001

 

Georg Feuser und Wolfgang Jantzen

 

Georg Feuser

Wolfgang Jantzen - Dieser Name, Dein Name, Wolfgang, ist aus meiner Sicht unmittelbar mit der Entwicklung einer umfassend wissenschaftlich fundierten, materialistischen und kritischen “Behindertenpädagogik” verknüpft, die Du grundgelegt und in ihren zentralen Kategorien erarbeitet und beschrieben hast - dies in den Feldern von Theorie und Praxis und unter Heranziehung wie in bezug auf alle humanwissenschaftlichen Kontexte.

      Wir hatten beide die Chance, in diesem Jahr unser 60. Lebensjahr zu vollenden -  in einer Zeit, in der, wie ich z.B. dem WESER-Kurier entnehme, 64% der Bevölkerung im Westen und 80% im Osten Deutschlands eine aktive Sterbehilfe befürworten, die nur von 19% bzw. 6% abgelehnt wird.[i] In den Niederlanden ist in diesen Tagen das Gesetz zur Zulassung der aktiven Sterbehilfe verabschiedet worden.

      Was heißt “Behindertenpädagogik” mit dem Blick nach vorne und mit dem Blick auf diese Entwicklungen?

 

Wolfgang Jantzen

Wenn ich versuche, die Frage in einen Kontext einzuordnen, dann fällt mir ein Artikel des russischen Philosophen Epstein in der Zeitschrift “Lettre international” ein, in dem es um Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit ging. Der Artikel von Epstein ist mit “Tempozid” überschrieben: “Mord an der Zeit”.[ii] Die Frage “Zeit” scheint in diesem Wettbewerb von “Lettre international” auf und nicht nur bei Epstein. Auch aus anderen Artikeln ergeben sich einige Grundprobleme. Das erste ist, wenn man zurücksieht, neigt man sehr dazu, die Vergangenheit nostalgisch zu erhöhen; die unbekümmerte Kindheit, der reine Wilde, der Wald, das Land gegenüber der Stadt usw. und solche Schöpfungen, d. h. wir neigen dazu, uns gerade in bedrohten Zeiten Orte von Harmonie zu schaffen.

      Die zweite Problematik ist die der Utopie. Eine andere Art von Flucht aus der Gegenwart kann in Form einer Utopie stattfinden, die anstelle der systematischen Veränderung der Gegenwart, die immer mühsam ist und die immer in der Gefahr ist, korrumpiert zu werden, die Flucht in die reine Menschlichkeit als mögliche künftige Gesellschaft postuliert und - gleichzeitig damit einhergehend - das Verbot, sich an der schmutzigen Praxis die Hände schmutzig zu machen. Beides ist durchaus in der Behindertenpädagogik gängig, aber darauf  will ich jetzt nicht so sehr  eingehen. Ein drittes Moment, das Epstein hervorhebt und das ich für höchst bedenkenswürdig halte, ist der Tempozid der in der Gegenwart stattfindet. D. h. die Gegenwart als offene Zeit zur Veränderung wird negiert, einerseits durch die postmoderne Geschichtsphilosophie-Diskussion, es gebe nur noch ein Ende der Geschichte: Die Welt als solches könne nicht umfassend gedacht werden, sondern nur noch je subjektive Zugänge zur Welt, das Ende der großen Erzählung sei erreicht. Und mit dieser ideologischen Figur, die von der einen Seite herkommt, verknüpft sich sehr gut auf der anderen Seite die Spaßgesellschaft. Die jüngsten Meinungsumfragen zum Wertewandel in der Jugend zeigen ja sehr deutlich, daß dort, den Interviews nach, Prozesse der Entsolidarisierung stattfinden, daß nicht mehr als attraktiv erscheint im Sinne von sozialem Gemeinsinn sich zu engagieren. Wenn ich das alles zusammennehme, dann findet einerseits ein Tempozid statt, indem dieser Prozess auch durch die Verflachung und Sensationsorientierung des Journalismus sich laufend beschleunigt und andererseits gibt es im Hintergrund gesellschaftliche Kräfte, denen das nur zupass kommt und die dies gnadenlos nutzen. Denn dies entspricht genau dem Konzept der “80:20 Gesellschaft”, die für die Zukunft prognostiziert wird: 80 % sind ohne Arbeit, 20 % leben in einigermaßen gesicherten Lebensverhältnissen, und - nach den Worten des ehemaligen amerikanischen Präsidentenberaters Zbiniev Brzezinski - muss für die 80% Ernährung und Unterhaltung vorgehalten werden und mehr nicht. Das  paßt alles recht gut zueinander. Während also auf der einen Seite eine Geschichtsphilosophie suggeriert, das Ende der Geschichte ist erreicht, orientierten sich andere Teile immer noch ganz im alten Reagen‘schen Denken, der Gegner ist ausgemacht! Bei Huntington heißt es: The west against the rest.[iii] Dieser große hegemoniale Konflikt wird natürlich auf allen Ebenen mit geschichtlicher Planung gefahren. Da gibt es überhaupt kein Ende der Geschichte. Den herrschenden kapitalistischen Kräften ist ganz klar, daß die Schlachten noch längst nicht alle geschlagen sind. Insofern könnte man, wenn man das einmal etwas persiflieren  und Saddam Hussein zitieren will, sagen: “Die Mutter aller Schlachten steht noch bevor.” Das wäre so der Kern und jetzt zur Behindertenpädagogik.

 

Georg Feuser

Vielleicht noch eine kleine Rückfrage: Sind die philosophischen Gebäude, auf die Du rekurrierst,  neue Varianten eines verschleierten Kulturpessimismus oder mehr als dieser Begriff zu beschreiben vermag?

 

Wolfgang Jantzen

Nein, nein! Das ist kein Kulturpessimismus. Ich halte mich nur ganz einfach an einen Gedanken von Hans Jonas, den ich für überaus vernünftig halte, nämlich die schlechtmöglichste Variante zu antizipieren und alles zu tun, damit sie nicht eintritt.

      Jetzt zur Behindertenpädagogik. Die Behindertenpädagogik ist überwiegend immer noch ein von Naivität geprägtes Fach. Naivität, das ist hier nicht negativ und nicht zynisch gemeint, sondern in der Weise, daß ehrenwerte, humane Motive in Kontexte einfließen, deren Bewältigung sie nicht gewachsen sind und die dann zu allen möglichen Kompromissen, Umbildungen und ideologischen Figuren führen, die ganz woanders liegen, als die eigene humane Ausgangsposition gewesen ist. Diese naive Unterentwicklung des Faches lässt sich schon in den genannten Zeitebenen abbilden. Zum einen findet  immer wieder der Versuch statt, vergangene Zustände nostalgisch zu verklären. Man könnte diesbezüglich Christian Gaedts Überlegungen anführen - mit Abstrichen natürlich und ohne ihm Unrecht tun zu wollen - inwieweit Anstalten sinnvolle Lebensräume für Behinderte sein können, wenn man sie mit Kommunalcharakter ausstattet usw. Zum Teil finden sich in der Anthroposophie solche Überlegungen, also einfach Inseln des Rückzugs zu schaffen mit gewissen Verklärungen, aber man muss sich natürlich fragen - eine Frage, die meine ehemaligen Doktoranden Kuckherman und Wiggert-Kösters[iv] schon in den 70er Jahren aufgegriffen und behandelt haben: Was ist das für eine Arbeit, die gesellschaftlich entwertet ist und die man Behinderten in einem scheinbar humanen Akt zukommen lässt? Das ist alles nicht unproblematisch und bedarf eines weiteren Durchdenkens. Zumindest sollte das Fach sich darüber klar sein, daß einer der Fluchttunnel, der ständig präsent ist, die Flucht in die Nostalgie ist. Das sieht man in bestimmten christlich motivierten Heilpädagogiken auch in der ideologischen Überhöhung des eigenen Handelns; sozusagen in den Schönfärbungen dessen, was man tut, indem man die eigenen Motive, die eigenen humanen Ansatzpunkte für die Wirklichkeit erklärt. Da fand ich die Kritik von Anstötz[v] seinerzeit an den traditionellen Heilpädagogen mehr als berechtigt.

      Das andere ist natürlich die Flucht in die Utopien, die insbesondere in bestimmten Teilen einer sich selbst so bezeichneten Linken modern gewesen ist und immer noch modern ist. »Die Anstalten sind so schrecklich«, »die Schulen sind so schrecklich«, daß man erst gar nicht hineingeht und am besten ist es, diese Wirklichkeit unsichtbar zu machen, indem man auch den Begriff für diese Wirklichkeit wegnimmt, so etwa die Integrationspädagogik. Nur - mit allen Umfärbungen, Euphemismen und mit aller Antizipation einer besseren Zukunft bekommt man sie nicht, wenn man sie nicht in der Gegenwart erstreitet.

      Das dritte Problem im Kontext der Frage des »Tempozid«, sind etliche Tendenzen im Fach im Sinne einer Auslöschung von Gegenwart gerade im Diskurs um die Konstruktivismus-Debatte. Sie  hat eine überaus positive Seite. Es kann die Autonomie und Selbstbestimmungsfähigkeit eines jeden Menschen nicht mehr geleugnet werden. Wenn aber die Wirklichkeit nur je meine ist und sonst nichts, dann stellt sich die Frage, was pädagogisches Handeln ist, wenn die Realität nur von mir konstruiert wird? Wie kann dann jemand anderer auf diese konstruierte Realität einwirken und wie kann ich auf den anderen zurückwirken? D.h. die Begriffssysteme, innerhalb deren Pädagogik zu verorten ist, entschwinden und werden beliebig. Exemplarisch erscheint ein Stück weit die Diagnostik-Debatte in der “Sonderpädagogik” um die Thesen des unterdessen verstorbenen Kollegen Hauschildt.[vi]

      Was kann Behindertenpädagogik in dieser Situation heißen? Sie kann - wir kommen später sicherlich noch ein bißchen mehr darauf - sie kann nur heißen: Hinter diese Oberfläche der Erscheinungen zu gehen und Behinderung als soziales Verhältnis auszumachen und den Mut zu haben, zuzugestehen, daß wir, wie immer wir arbeiten, dieses soziale Verhältnis mit aufrechterhalten und aufrechterhalten müssen; etwa im Sinne des Imperativs von Martin Buber, dass uns zwar gegeben ist, Gutes zu tun, aber es uns nicht gegeben ist, nicht Unrecht zu tun. D. h., wenn wir Behinderung entschlüsseln, wie das die materialistische Behindertenpädagogik getan hat, nach der Subjektseite hin als »Isolation« von sozialen Prozessen und von Kultur, eine Isolation, die in der Regel nicht durch den Defekt, sondern durch das Sozium hergestellt wird, und wenn wir nach Seiten der sozialen Verhältnisse die Hauptdeterminante dieses Prozesses als Investition in Arbeitskraft begreifen, Investitionen, die bei Behinderten im Durchschnitt gesehen sich ökonomisch weniger lohnen, wie es ja auch die immer wieder aufkommenden Berechnungen zeigen, dann schimmert durch, dass der Kern der gesamten Behindertenpädagogik, der Kern der Konstruktion von Behinderung direkt und indirekt die offene und strukturelle Gewalt ist. Die Kernperspektive des Faches wäre, ohne alles humanistische Bramarbasieren und ohne diese ideologische Überhöhung, diesen Kern anzunehmen und dem erst einmal standzuhalten, dass das so ist und daß unsere besten Beteuerungen, Beziehungsarbeit o.ä. zu leisten, ständig von der Praxis ins Gegenteil verkehrt wird, ohne dass wir bemerken, dass das passiert. Das wäre, denke ich, mit Blick nach hinten und  Blick nach vorne, eine große Dimension der Behindertenpädagogik. Dazu müßte sie natürlich auch das historische Gemachtsein der postmodernen philosophischen Diskussion, der Spaßgesellschaft, erkennen, wobei ich wohlgemerkt nicht die postmoderne Philosophie abwerten will; daraus kann man an anderen Punkten wieder sehr viel lernen. Aber ich habe das jetzt in einen größeren Rahmen gestellt: Erhaltung der Zeit versus Vernichtung der Zeit.

 

Georg Feuser

Einige der Zusammenhänge, Wolfgang, die Du angesprochen hast, auf die möchte ich später noch einmal zurückkommen. Zunächst würde ich feststellen wollen, dass wir schon seit vielen Jahren Strömungen, die uns bezüglich der Absicherung der Grundbedürfnisse als behindert geltender oder in anderer Weise schwer beeinträchtigter Menschen nach gesundheitlicher und sozialer Absicherung und auf Bildung mit Sorge erfüllen. Mit der Sorge, daß selbst minimale humane Standards unterschritten werden. Gleichzeitig ist der Begriff der “Qualitätssicherung” auch im Behindertenbetreuungswesen zu einem fast allgegenwärtigen Wort geworden - ein Schlagwort - ein Verschleierungswort?

 

Wolfgang Jantzen

Ich muß noch ein paar Sachverhalte aufgreifen, die im Kontext der ersten Frage unbeantwortet blieben, um Dir weiter antworten zu können: Du hast die Sterbehilfe als eines der Probleme angesprochen. Wir könnten genauso noch das Problem der zunehmenden Freigabe der Eingriffe in die Keimbahn oder anderes nennen. D.h., der Bereich, in dem Behinderung existent ist, wird systematisch schmaler. Ich denke, daß große Teile des Faches das noch nicht richtig wahrnehmen. Aber er wird schmaler auch deshalb, weil dahinter die Vision von Huxleys schöner neuen Welt aufscheint und alles darangesetzt wird, diese Welt herzustellen für jene, für die diese Welt erreichbar scheint, wobei die sich in der Regel nicht im mindesten um alle jene scheren, für die diese Welt nicht erreichbar ist.

      Behindertenpädagogik markiert sozusagen den härtesten Kern dessen, was sich gegen diese Bedrohung zu wehren hat und gegen diese Auslöschung, die ja immer in Form von Verdinglichung stattfindet. Verdinglichung: Der Embryo hat keine Personenrechte. Natürlich kann er diese im philosophischen Sinne nicht haben. Er kann sie aber rechtlich zugesprochen bekommen, das ist juristisch durchaus möglich und man kann das sehr wohl begründen.[vii] Oder: Bei schwerem Leiden sollte man zur Sterbehilfe schreiten. Aber darin steckt schon eine Verdinglichung, weil, wenn man die palliative Medizin, die Schmerztherapie, nicht ausbaut, man dieses Leiden erst herstellt und es den Betroffenen zuschiebt, eine solche Entscheidung fällen zu müssen.

      Die Behindertenpädagogik wäre sozusagen ein Fach, das gegen diese Verdinglichungen steht. Man könnte auch, um den Gedanken von Vygotskij aufzugreifen, den er seiner Methodologie vorweg gesetzt hat, mit der Bibel sagen: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Ich komme jetzt nochmals auf das, was ich Dir schon geantwortet habe. Ich habe in einem Buch mit Aufsätzen zur Ethik ein Brecht-Zitat vorangestellt, aus dem Lehrstück vom Einverständnis. Das Buch hat den Titel: Das Ganze muß verändert werden.[viii] Dieser Titel ist oft mißverstanden worden, weil einfach das Motto nicht gelesen wurde. In diesem Brecht-Zitat geht es um das Verhältnis von Hilfe und Gewalt. Brecht zeigt, wie Hilfe immer in Systeme von Gewalt eingebunden ist und dieses Zitat endet “... darum sollt Ihr nicht Hilfe leisten, sondern die Gewalt abschaffen, denn Hilfe und Gewalt bilden ein Ganzes und das Ganze muß verändert werden”. Also, das Verhältnis von Hilfe und Gewalt muß verändert werden. Und damit sind wir bei der Qualitätsdebatte, die damit einen ganz anderen Kern bekommt. Verändert die Qualitätsdebatte in der Bundesrepublik das Verhältnis von Hilfe und Gewalt? Wir haben dazu mit zahlreichen Autoren ein Buch gemacht.[ix] In diesem sind auch internationale Vergleiche angestellt. Wir können feststellen, daß in England die Qualitätssicherungsdebatte sehr stark mit öffentlicher Beteiligung gekoppelt ist, also mit demokratischer Kontrolle der Qualität. Davon ist hier bei uns überhaupt nicht die Rede. Wir haben es  im gesamten Feld der Behindertenpädagogik mit Bereichen zu tun, wenn wir z.B. die Organisationsebene betrachten, die extrem undemokratisch organisiert sind. Das kann ich an den Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände aufzeigen, für die nach wie vor noch der Tendenzparagraph gilt. Natürlich ist unter dem Druck der ökonomischen Situation zum Teil die Herrschaft der alten Pastoren über die  Großeinrichtung aufgebrochen worden; bei Diakonie und Caritas. Aber was ist die Folge? Genauso wie bei den anderen Verbänden sind smarte junge Geschäftsführer an ihre Stelle getreten, ohne daß es irgendwelche Möglichkeiten gibt, die jetzt vorherrschenden Gesellschaftsformen gemeinnütziger GmbH’s zu kontrollieren. Die Vorstände sind nicht in der Lage ihr Kontrollrecht auszuüben, weil ihnen die inhaltliche Verkopplung fehlt und die Einrichtungen selbst sind in der Regel so aufgebaut, daß sie weit weg von allen Prinzipien lernender Organisationen sind, ja das sogar massiv abgewehrt wird. Selbst dort, wo sie sich als lernende Organisation geben, dient es vor allem der Darstellung ihrer Kompetenz nach außen und ist in der Regel aber gleichzeitig mit massiver Abwehr verbunden, wenn es darum geht, die nach wie vor nach innen herrschenden unmenschlichen Zustände im Umgang mit Behinderten aufzudecken. Diesbezüglich - wahrscheinlich kommen wir später noch einmal darauf, wenn wir ein bißchen auf vergangene Zeiten zurückgehen-  hat sich zwar vieles geändert, wenn ich das mit der Situation Anfang der 70er Jahre vergleiche, wo ich mich z.B. auf dem Vorschul-Kongress in Hannover in einer Veranstaltung für Behinderte bei einer Debatte vehement gegen das Podium geäußert habe, das davon sprach, wie gut die Geistigbehinderten in den schönen, sauberen Anstalten untergebracht seien. Es geht nicht darum, dass es irgendwo schöne Wohnungen gibt, das ist okay, es geht nicht darum, dass das Personal versucht, freundlicher zu sein, es geht darum, dass systematisch ausgeräumt wird, was heute noch Kern jeder Arbeit, in jeder Anstalt ist, so wie sie ist - nicht weil das Personal das will, sondern weil das Personal so handeln muss, weil es nicht anders geht -  nämlich die  Doppelung von Behinderten in »gute« und »schlechte Anteile«, in Anteile von »liebe, freundliche Menschen«, denen man Empathie zukommen lassen kann, in »arme Behinderte«, die doch so offen sind, dass es Spaß macht, mit ihnen zu arbeiten, die viel menschlicher sind als alle anderen .....

..... wie es ja auch in zwischen in die Werbung eingeht (Georg Feuser)

genau, und denen in dieser Doppelung natürlich gleichzeitig alle schlimmen Eigenschaften zugeschrieben werden, die sie pathologisieren und kriminalisieren. Alle Anstalten sind voll der Rede: “Der provoziert”, “die provoziert”. Wobei ich mich frage, was die Rede davon soll, wenn man halbwegs reflektiert, was das Leben in der totalen Institution bedeutet und wenn man weiß, dass, was Provokation genannt wird, eine Überlebensmöglichkeit unter der Bedingung der totalen Einrichtung ist. Aber, wie gesagt, das hängt mit der doppelten Realität dieser Einrichtungen zusammen, zu denen man soziologisch außerordentlich viel sagen kann: Zu einer öffentlichen, die nach außen hergestellt wird und zu einer geheimen, die nach innen hergestellt wird, in der natürlich das gemeinsame schlechte Gewissen gegen Änderungen verbindet. Man kann das exemplarisch etwa an dem Dörner-Bericht[x] über das St.-Joseph-Stift sehen. Aber das ist überall in Einrichtungen so - nein, ich will nicht sagen »überall«, weil ich eine einzige kenne, wo ein anderer Weg versucht wird, aber da sind die Leute am Rand der Erschöpfung.

Gut, wenn ich das alles einbeziehe, dann frage ich: Was heißt Qualitätssicherung und was kann Qualitätssicherung heißen unter dem Druck, die bisherige Arbeit noch sparsamer, noch effektiver machen, Erfolge aufweisen zu müssen. Das führt zu großen Zweifeln, ob eine solche Qualitätssicherung gelingt und gelingen kann, zumal ja auch die Hebel durch die Gesetzgebung so verteilt werden, dass letztlich die Sozialbehörden insgesamt größeren Druck haben. Die Sozialbehörden sind fern dem Problem Behinderung und aufgrund der Dauerarbeitslosigkeit unter riesigen Sparzwängen. Ich kann es den dort arbeitenden Kolleginnen und Kollegen gar nicht verdenken, wenn sie versuchen, Kosten zu sparen. Da sie noch viel weiter von den Behinderteneinrichtungen weg sind, ist es natürlich kein Wunder, dass diese Verdoppelung und Verdinglichung bei ihnen noch sehr viel stärker ausgeprägt ist als bei den Mitarbeitern, wo sie ohnehin schon eminent stark ist.

Das alles müsste man also systematisch aufbrechen. Dazu gibt es Ansätze und dazu haben wir ja auch eine Menge Überlegungen angestellt und Praxis vorgelegt. Ich sehe die Entwicklung auch nicht nur negativ. Das, was das Bündnis der vier großen Behindertenverbände an Sensibilisierung hervorgebracht hat, was insbesondere die Lebenshilfe an Diskussion anschob, ist für mich glaubhaft, insbesondere auch deshalb, weil die Lebenshilfe darauf dringt, dass Geistigbehinderte auf allen Ebenen in ihre Vorstände kommen. Ein solcher Prozess müsste angeschoben werden, mit massivem Ausbau der Selbstbestimmungsrechte von behinderten Menschen und ihren Angehörigen, mit massiver sozialer Kontrolle der Geschäftsführungen von Einrichtungen aber auch mit massiver sozialer Kontrolle von Vormundschaftsgerichten und Betreuern, denn da bildet sich eine ganz neue Ebene von Machtausübung und manchmal von Gewaltausübung aus, fern von aller sozialen Kontrolle. Man  müsste praktisch Begehungskommissionen haben, öffentliche Einrichtungen, wo regelmäßig Rechenschaft abgelegt wird und wo Einrichtungen in Begründungszwang für bestimmte Maßnahmen kommen, während ihnen alle anderen Sachen offen gelassen werden. Ich bin überhaupt nicht dafür, das Fach zu gängeln, dem Erkunden muß alles gestattet sein, außer Geistigbehinderten ihre Grundrechte abzusprechen.

..... vor allem das Recht auf Leben (Georg Feuser)

Ja!

 

Georg Feuser

Wolfgang, Deine Bemerkungen zu meiner zweiten Frage ziehen für mich eine Linie an, die auf einen umspannenden, weltweiten Prozess orientiert ist - vielleicht im Kontext mit Entwicklungen, die wir heute auf der einen Seite mit dem Begriff der »Globalisierung« und auf der anderen Seite mit dem der »Deregulierung« auch im Bereich des Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesens in die Diskussion  bringen. Mir drängt sich der Eindruck auf, daß mangels einer fundierten Ökonomie in diesen drei Bereichen die Folgenabschätzung für die Menschen unzureichend transparent wird und die Chance zu einem dringlich erforderlich Widerstand verpaßt wird - oder ist ein solcher von vornherein absolut aussichtslos? Die Schriften von Bourdieu lassen doch hoffen?

 

Wolfgang Jantzen

Bourdieu schreibt ja an einer Stelle, dass der neoliberale Diskurs ein starker Diskurs ist und ein starker Diskurs ist ein Diskurs der sich selbst verstärkt, also der sich dauernd positiv rückkoppelt. Was man vielleicht daraus auch nehmen kann: Gestern, in “Drei-nach-Neun” diskutierte eine Runde, in der ein Vorstandsmitglied der Dresdner Bank saß. Es ging um das Engagement der Dresdner Bank gegen rechts. Der Vertreter der Dresdner Bank wurde befragt, wie sich denn jetzt die Kunden angesichts des massiven Verfalls der Wertpapiere verhalten. Die Antwort war, daß die Kunden sich sehr vernünftig verhalten, daß sie über Jahre die Gewinne mitgenommen haben, aber jetzt auch nicht in Panik geraten, sondern das relativ mit Ruhe nehmen. Wie kann jemand es mit Ruhe hinnehmen, daß ein großer Teil seines Vermögens zerfällt? Es liegt ja eine andere Situation vor, als beim großen Bankenkrach der 20er Jahre. Ersichtlich ist das nur möglich, wenn alles durch einen fast irrationalen Glauben an ein überindividuelles Subjekt genährt wird - und dieses überindividuelle Subjekt heißt Neoliberalismus. D.h., die neoliberalen Sachzwänge sind so in die Köpfe der Menschen eingegangen, daß sie praktisch eine neue Ausformung des Fortschrittsbegriffes bewirkt haben, der ja nach philosophischen Annahmen bereits ein spezifischer säkularisierter Gottesersatz ist. Der Neoliberalismus wäre also ein weiterer säkularisierter Gottesersatz. Nur das kann erklären, daß Menschen nicht in Panik geraten, wenn ihnen ihr eigenes Vermögen unter den Händen zerrinnt.

Das ist  ein Diskurs, der an der Oberfläche sehr viel für sich hat, denn natürlich müssen die Finanzkapitalbewegungen dazu führen, dass irgendwo wieder Spekulationsgewinne zu machen sind, das ist überhaupt keine Frage. Nur, die Investitionsgewinne werden immer weiter nach hinten treten, bedeutungslos werden und das führt auch dazu, dass Unternehmen ihre Politik nun nach der Spekulation und nicht nach den notwendigen langfristigen Investitionen ausrichten usw. usf. Was hier in Gang gesetzt wird, ist einer Schlange gleich, die sich selbst in den Schwanz beißt und sich auffrißt. Wenn Unternehmen nicht mehr die langfristigen Entwicklungsinvestitionen im Kopf haben, sondern sich kurzfristig an der Spekulation orientieren, rennen sie natürlich immer hinter den Spekulanten her und irgendwann geht das Kapital weg, so bei dem Milliardencrash in Ostasien. Die Werte verfallen, die Arbeitslosigkeit steigt, die Fabriken gehen kaputt usw. usf. Das heißt, dieser Prozess ist auf Sand gebaut und vernichtet sich selbst, aber das kann noch eine sehr lange Zeit in der aufgezeigten Weise funktionieren.

Dagegen müsste man sich natürlich, wenn man an diese Sachverhalte kritisch herangehen will, mit den Mechanismen vertraut machen, die das alles stoppen könnten und die angebracht sind. Dazu gibt es hinreichend nationale und internationale Literatur. Hier würde ich zuerst gar nicht Bordeaux nennen, weil er auf der Ebene von Ökonomie nicht arbeitet, sondern auf der Ebene der Soziologie, wenngleich  er Verbindungsstellen zur Ökonomie offen hält. Ich würde beispielsweise Huffschmids neues Buch “Politische Ökonomie der Finanzmärkte” nennen oder andere Bücher, die diesbezüglich ein Stück schlauer machen können. Schlau machen müssen wir uns ein Stück weit: Nicht, um Ökonomen zu werden, überhaupt nicht, sondern damit es geschafft werden kann, diese neoliberale Besoffenheit zu überwinden. Vygotskij schreibt an einer Stelle über einen Autor, daß dieser trunken vom cartesianischen Wein ist. Man könnte sagen: Große Teile der Bevölkerung, auch die, die sich im Gesundheits-, Sozial- und Bildungssektor engagieren, sind trunken vom neoliberalen Wein und es wäre höchste Zeit, sich wieder einen klaren Kopf zu machen, sich auf die sauren Heringe einzustellen, die man schlucken muss und genauer zu überlegen, was da abläuft.

Was ist der Kern eines solchen Diskurses, was kann man überhaupt machen? Das wird in den verschiedenen Analysen von gewerkschaftlicher oder wissenschaftlicher Seite immer wieder ausgemacht: Es gilt, das Demokratiedefizit zu beseitigen. Das ist eine sehr interessante Frage. Zumindestens auf der Ebene des investiven Kapitals wird unterdessen in Debatten ganz klar darauf hinweisen: Betriebe lassen sich besser und rationeller führen, wenn nach den Prinzipien der Selbstorganisation die Mitarbeiterschaft in hohem Grad über Rückkoppelungsmechanismen an der Betriebsführung beteiligt ist - lernende Organisation nennt man das. Es gibt Berge an Literatur dazu. Das heißt, innerhalb des Produktionskapitals selbst ziehen demokratische Elemente ein, weil die Produktion anders nicht zu gewährleisten ist. Das ist für die drei Bereiche, die wir hier vor uns haben, natürlich ein Stück anders, denn auf der einen Seite sind sie vom neoliberalen Wein besoffen, auf der anderen Seite tun sie aber alles andere als sich nach Gesichtspunkten moderner Betriebsführung zu orientieren, d.h. sie versuchen, Macht zu erhalten, Einfluss zu erhalten, zu verwalten und kommen damit natürlich auch wiederum in Probleme, sich am Markt halten zu können. Das ist wiederum dann doch nicht so problematisch, weil sie sich möglicherweise mit minderqualifizierten Personal, weniger Demokratie, härterem Durchgreifen im Betrieb kostengünstig und besser am Markt halten und besser mit Sozialämtern verhandeln können. Also darf man annehmen, dass in diesem Bereich von innen heraus oft ein nicht allzu großes Interesse an Demokratisierung besteht. Diese Bereiche, wenn es um behinderte Menschen geht, um alte Menschen, um sozial verelendete Menschen, um kranke Menschen, müssen von außen her zur Demokratisierung gezwungen werden. Natürlich unter Einbeziehung der an der Basis Arbeitenden, weil diese einerseits Täter gegenüber den betroffenen Gruppen, andererseits aber selbst Opfer sind, mit in Prozesse hineingezogen werden, die sie verantworten wollen aber eigentlich nicht verantworten können. Hier müsste es einen massiven Druck von außen geben, dass es ohne Demokratisierung keine Qualitätssicherung , keine Pädagogik geben wird - das gilt im übrigen auch für den Schulbereich, den ich hier ausgelassen habe.

 

Georg Feuser

Meine Zwischenfrage, wenn Du erlaubst, wäre auch dahingehend zu verstehen, ob die Analyse, die Du aufgemacht hast, generell für Gesundheit, Soziales und Bildung gelten kann oder ob Du möglicherweise zwischen diesen Bereichen differenzieren würdest?

 

Wolfgang Jantzen

Ich würde erst einmal gar nicht so sehr differenzieren, weil ich glaube, dass es außerordentlich wichtig ist, diese Bereiche übergreifend zu analysieren. In den 70er Jahren sind bemerkenswerte sozialwissenschaftliche Schriften entstanden, einmal beim wissenschaftlichen Institut des DGB, das große zweibändige Werk von Bäcker und Ko-Autoren über Sozialpolitik und andererseits das Buch von Dankwerts über soziale Arbeit, die erstmalig diese verschiedenen Bereiche insgesamt als Bewegungen des variablen Kapitals gekennzeichnet haben.[xi] Für Leute, die heute mit dem Begriff nichts mehr anfangen können: Diese Bereiche finanzieren sich über verdeckte Lohnleistungen, die vorher abgezweigt sind und über Lohnleistungen insgesamt. Was einem Arbeiter direkt gezahlt wird, ebenso wie die sogenannten Lohnnebenkosten, das ist beides zusammen das variable Kapital. Wenn man nicht im Auge hat, dass alle diese Bereiche darüber finanziert werden, dann wird man einen Bereich gegen den anderen ausspielen und nicht das Gemeinsame sehen. Es ist mir erst einmal wichtig, das Gemeinsame hervorzuheben.

Du hattest aber noch in der Frage gefragt, ob die Schriften von Bourdieu hoffen lassen. Ich weiß es nicht. Bourdieu ist ein wunderbarer Analytiker, was Machtverhältnisse im Detail und im Großen betrifft - soziale Austauschverhältnisse, soziale Konstruktion von Individualität usw. usf. Ich denke, seine Grenzen beginnen dort, wo der Übergang von Gemeinschaft zu Gesellschaft stattfindet. Er ist ein hervorragender Theoretiker der Gemeinschaft, und er liefert Übergangskategorien für die gesellschaftlichen Prozesse. Das ist seine Kategorie »Feld der Macht«. Sie ist ein Resultat der übrigen sozialen Felder, in denen die jeweils Beteiligten sind. Wenn ich in einer Großeinrichtung arbeite, bin ich einerseits im Feld der Großeinrichtung tätig, im religiösen Feld, wenn es z.B. katholische oder evangelische Einrichtungen sind, im sozialpolitischen und sozialbürokratischen Feld - sie alle fließen zusammen -  und andererseits bin ich auch im kulturellen Feld als Wissenschaftler an einer Universität tätig. Und meine Gesamtposition aus diesen Feldern macht meine Machtposition im Feld der Macht gegenüber der Einrichtung aus. Diese Übergangskategorie hat Bourdieu analysiert und gleichzeitig die Übergangskategorie der sozialen Anerkennung, die mir aufgrund meines Verhaltens aus allen diesen Feldern entgegengebracht wird - das sogenannte symbolische Kapital. Er hat aber nur verfolgt, wie auf der gesellschaftlichen Ebene Prozesse entstehen und da läge es natürlich nahe, sich an die Marxsche Wertanalyse zu erinnern, die dort einiges leisten könnte, worauf ich hier nicht eingehen will. Insoweit ist Bourdieu in gewisser Weise begrenzt. Er ist und bleibt, bei allem was ich an ihm schätze, ein Stück weit französischer Strukturalist. Sein persönliches Engagement schätze ich außerordentlich hoch, aber ich sehe nicht, wo in seiner Theorie dieser Begriff des Engagements selbst verankert ist und seinen Platz hat. Das wäre anders, wenn ich bei dem von mir sehr geschätzten Philosophen Spinoza beginne, der in dieser Beziehung noch in Antonio Negris wunderbarem Buch “Die wilde Anomalie”[xii] neu zur Sprache gekommen ist. Negri verweist darauf, wie in der als Fülle des Seins gedachten Gegenwart, in der alles passiert, also in der Immanenz, auf die sich Spinozas Philosophie bezieht, Spinoza, bezogen auf die Bürgerrechte, einen erkenntnistheoretischen Bruch vornimmt. Die Bürgerrechte sind nämlich das Recht, das qua Konstitutionsvertrag, der von jeder Generation neu geschlossen wird, in Form von Macht durch die Bürger abgegeben wird an den Staat. Denn jeder hat soviel Recht, wie er Macht hat. Macht kann aber nicht beliebig übertragen werden, weil qua Natur bei den Bürgern Natureigenschaften bleiben. Und auch durch Vertrag kann der Staat nicht in die Lage versetzt werden über die Emotionen der Bürger zu bestimmen usw. Es ist also durch Macht nicht möglich, ein bestimmtes Fühlen, eine bestimmte Handlung eines Menschen zu erzwingen. Und diese Dimension von Subjektivität, die bleibt als Kriegsrecht im Bürgerrecht erhalten, so Spinoza, was Negri aufgreift. Dieses Kriegsrecht im Bürgerrecht ist in der Tat ein Ansatzpunkt, der von etlichen Philosophen, die sich mit der modernen Situation auseinandergesetzt haben, hervorgehoben wurde. Beispielsweise Adorno, am Ende der negativen Dialektik, wenn er darauf verweist, dass aber das Bedürfnis nach Denken will, daß gedacht wird oder Antonio Gramsci, wenn er darauf verweist, daß der zugerichtete Arbeiter, der dressierte Gorilla, sich durchaus seine eigenen Gedanken macht und den Herrschenden unbequem werden kann. Dass das so ist, zeigt sich ja auch in dem, was wir anfangs schon diskutiert haben- in der Notwendigkeit dieses “Tittytainment”, so der Begriff von Brzezinski[xiii] zu organisieren und den  Verlust der Zeit zu organisieren. Es wäre etwas Entscheidendes, gegen diesen Verlust der Zeit Erinnerungsarbeit zu leisten, Geschichte wieder zugänglich zu machen, Zukunft wieder zugänglich zu machen, indem, rückgebunden an Geschichte, Dimensionen humanen Handelns in der Gegenwart geöffnet werden. Das fehlt mir partiell bei Bourdieu, so sehr ich ihn schätze, so brillant er als Strukturalist ist. Wenn ich mich auf das Hoffen beziehen würde, dann würde ich andere Autoren heranziehen, z.B. Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen und Gramsci, aber eben nicht Bourdieu.

 

Georg Feuser

Du erwähntest “Erinnerungsarbeit”. Ich möchte etwas zurückgreifen. Im Jahr 1974 erschien Deine Arbeit mit dem Titel “Sozialisation und Behinderung”. Schon bei der Begriffsbestimmung von »Sozialisation« verdeutlichst Du, daß sich das Problem nur in dialektischer Auffassung lösen läßt. Dies in dem Sinne, daß Sozialisation begriffen werden muß “als ständig sich erneuernder Widerspruch zwischen biologischer Ausstattung und gesellschaftlichen Verhältnissen, vergleichbar dem Gesetz der Dialektik von der ‘Einheit und des Kampfes der Gegensätze‘” (S. 11)

Von dieser Arbeit aus zeichnet sich mir über alle Deine zentralen Arbeiten hinweg bis heute eine kontinuierliche Linie ab, den behinderten Menschen , wie das Franco Basaglia (1978) in bezug auf den psychisch kranken Menschen in seiner Arbeit über die “Institutionen der Gewalt” artikuliert hat, als einen Menschen zu verstehen, der - Basaglia folgend - psychopathologische Probleme aufwirft, die dialektisch und nicht ideologisch zu verstehen sind und der ein Ausgeschlossener, gesellschaftlich Geächteter[xiv] ist (S. 151) Welche Bedeutung hast Du damals dieser Erkenntnis zugemessen - welche mißt Du ihr heute zu?

 

Wolfgang Jantzen

Es ist natürlich nett, ein Zitat aus einer so alten, eigenen Arbeit zu hören - oft habe ich die Sachen geschrieben und schaue sie dann nicht mehr an. Aber da steckt schon was drin. Denn diese “Sozialisation und Behinderung” hat eine Vorgeschichte und diese ist die einer sozialen gesellschaftspolitischen, hochschulpolitischen Auseinandersetzung um eine andere Perspektive des Faches. Zur Vorgeschichte gehört beispielsweise das bis heute noch nicht publizierte Papier, das wir zu dritt zu Beginn der 70er Jahre am Institut für Sonderpädagogik in Marburg zur Lage des Instituts und zu möglichen Alternativen vorgelegt haben und mit dem u. a. formuliert wurde, dass das Fach nur Niveau erlangen wird, wenn es sich mit dem Marxismus auseinandersetzt, den Marxismus aufgreift.

Daß ich nach Marburg an die Universität gegangen bin, war eine Entscheidung in einem sozialen Feld, in dem ich vor zwei anderen Alternativen gestanden habe. Ich hätte die Stelle eines Schulpsychologen übernehmen können und ich hatte mich um die pädagogische Leitung einer Gesamtschule beworben gehabt. In diesem Fall hat ein bisher als Rektor der Volksschule arbeitender Kollege die Stelle bekommen und mir ist die nächste in Aussicht gestellt worden. Bei der Schulpsychologen-Stelle hat sich das für den regionalen Bereich nicht realisiert, in dem ich arbeiten wollte. Also bin ich nach Marburg gegangen. Dies nach viereinhalb Jahren Lehrertätigkeit an eine Schule für Lernbehinderte. Die Perspektive, die ich in dieser Arbeit gewonnen habe, ist in dieses Papier mit eingegangen, nämlich die,  daß mit den Mitteln der alten Schwachsinns-Theorie, die aus der traditionellen Heilpädagogik heraus immer noch präsent war, die Lebenswirklichkeit der Schüler in keiner Weise abgebildet werden konnten. Zwar begann sie sich durch die These von der sozio-kulturellen Benachteiligung aufzulockern, die durch Klein und Begemann Ende der 60er Jahre vorgebracht wurde. Dass Harry, den sie alle den “Pisser” nannten, nicht lernen konnte, das lag nicht daran, daß Harry dumm war, sondern das lag daran, daß sie zu sechst in einem nicht richtig heizbaren Spritzenhaus auf dem Land gewohnt haben – das war ein Problem der Armut und nicht des Hirndefektes. Und ich habe begriffen, daß es für viele der Schüler das Problem der Armut war. Ich habe auch begriffen, daß die Institutionen, die sich um diese Armut herum gruppieren, in ihrer wohltätigen Absicht genau das hervorbringen, was sie beseitigen wollen. So hat mich z.B. die Art des Konfirmandenunterrichts, den meine Schüler erfahren haben, so tief gekränkt, daß ich endgültig mit der Kirche gebrochen habe, aus der Kirche ausgetreten bin. Unerträglich war, wie diese armen Kinder dort behandelt wurden. Damit war erst einmal deutlich, was gemeint war: Die Biologie ist das eine und die sozialen Verhältnisse sind das andere. Die sozialen Verhältnisse können eine Biologie asozialer Natur hervorbringen, die weitaus defektiver ist als die biologische Natur es an sich sein könnte. Aber das war bei “Sozialisation und Behinderung” noch eine offene Frage, denn in der Marburger Zeit stand natürlich auch die Frage offen - und mußte noch offen stehen: Was ist mit den Geistigbehinderten? In bezug auf diese Menschen ließ sich natürlich die abnorme Hirnschädigung nicht außer Kraft setzen. Sie war ohne Zweifel vorhanden. Also war da die Frage: Wie wirkt zwischen Biologie, die anders ist, und sozialen Verhältnissen, die auch eine bestimmte Konfiguration haben, wie wirkt dazwischen der psychische Prozess als Dimension sui generis. Das ist eine sehr wichtige Frage, die dann eigentlich den großen theoretischen Umbruch hervorgebracht hat, der erst kurz nach der Marburger Zeit zu spüren war, sich aber in der Marburger Zeit angebahnt hatte. Dieser Frage war ich länger auf der Spur. Schon für mein Diplom in Psychologie, das ich 1969 erwarb, habe ich u.a. die Arbeit von Haggard über “Isolation and Personality”[xv] gelesen und erfahren, daß diese Umstände »Isolation« und eine vergleichbare Persönlichkeitsentwicklung hervorbringen, gleichgültig aus welcher Quelle sie kommt - ob aus Gefängnishaft, aus dem Aufenthalt in ‚Eisernen Lungen‘ o.a.m.

Nun mußte dieses Paradigma bloß noch auf die Ebene von Gehirnfunktionen übersetzt werden, ich sage “bloß noch”, aber das war keine einfache Aufgabe und es gab wichtige Schritte, die aus dieser Zeit heraus zu verstehen sind. Es gab die marxistische Debatte um eine Theorie der Persönlichkeit, die durch das Buch von Lucien Sève “Marxismus und Theorie der Persönlichkeit” angeregt wurde, das wir in der Marburger Zeit heiß diskutiert haben. Was ich daraus gelernt habe, ist, daß die Persönlichkeit in Juxtrastruktur zur Gesellschaft steht, also seitlich hineinversetzt in die Gesellschaft ist und nicht auf Gesellschaft reduziert werden darf. Insofern, ich greife da ein bißchen vor, ist das, was dann später Ulrich Bleidick als politökonomisches Paradigma hierzu erfand, blanker Unsinn, denn schon in der Marburger Zeit, schon lange vor seiner Erfindung der verschiedenen Paradigmata in der Heil- und Sonderpädagogik, war klar, daß die biologische Ebene eine eigenständige Wirkungsweise hat und dies in gleicher Weise auch für die persönliche Ebene der Fall ist. Dass die Persönlichkeit in Juxtrastruktur seitlich hineinversetzt in die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen ist, das hat Sève in Explikation der 6. Feuerbach-These von Marx klargemacht. Die 6. Feuerbach-These ist im Kontext aller Feuerbach-Thesen auf Aktivität, auf sinnliche und arbeitende Praxis angelegt. Das Subjekt, in Selbstbewegung in die gesellschaftlichen Verhältnisse hinein, entwickelt durch die gesellschaftlichen Verhältnisse und vermittels der gesellschaftlichen Verhältnisse Aktivitätsmatrizen, so hat das Sève genannt, in denen sich die Individuen innerhalb von sozial vorgefundenen Individualitätsformen entfalten und das könnte man etwa auch  mit dem Verhältnis von Entwicklung und Sozialisation vergleichen.

In dieser komplexen Weise haben wir begriffen, daß eine marxistische Theorie auch eine eigenständige Theorie der Persönlichkeit braucht. Was brachte das für die Frage nach der geistigen Behinderung? Erst einmal nicht viel. Aber es machte offen für die Lektüre von Lenins Empiriokritizismus, wo die Kategorie der »Widerspiegelung« in den Mittelpunkt gestellt wurde. Dazu muß ich doch ein paar Worte sagen, weil die neuere Konstruktivismusdebatte zu harsch mit den Kategorien »Widerspiegelung« und »Abbild« umgeht. Aber in Wirklichkeit wiederholt die Konstruktivismusdebatte die alte Lockesche Debatte. Bei Locke war nichts im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war und beim Konstruktivismus ist nichts im Verstand was nicht vorher in der Peripherie des Körpers war. Leibniz hat dem alten Sensualismus entgegnet: ..... außer dem Verstand selbst. Und wir entgegnen dem neuen Konstruktivismus ebenfalls: ..... außer dem Verstand selbst. Das ist erklärungsbedürftig. Der Verstand selbst ist natürlich in den psychischen Prozessen enthalten und wie wir u.a. aus der evolutionären Erkenntnistheorie wissen, sind Individuen natürlich auch ausgestattet mit einem Bild der Welt als einem Urbild, so daß man sehr wohl auch heute noch von einem verständigen Begriff von Widerspiegelung  und Abbild ausgehen kann. Das wollte ich nur andeuten, um klar zu machen, daß es nicht in einem platten sensualistischen Sinne war, wie wir den Begriff der »Widerspiegelung« aufgefasst haben - von Anfang an nicht - wenngleich damals natürlich ein Stück naiver als heute. Der Grundgedanke war die Frage nach der Erklärbarkeit der geistigen Behinderung, wenn der Prozess der Widerspiegelung durch eine Hirnschädigung gestört ist. Im Sinne einer weiteren Annäherung hatten wir jetzt eine Kategorie, die am Subjekt festmachbar war und mit der die Reaktionsweisen des Subjekts zwischen Biologie und Sozialem neu modelliert werden konnten. In diesem Kontext waren dann Leont‘evs “Probleme der Entwicklung des Psychischen” augenöffnend. Warum? Weil Leont‘ev dort den Begriff der »funktionellen Hirnorgane« einführt, der uns bis dahin völlig unbekannt war. Das heißt, das Großhirn ist in der Lage, Organe zu bilden, also komplexe funktionelle Verbindungen herzustellen. Damals wurde das vor allem auf dem Hintergrund von Bernsteins Physiologie gedacht - Leont‘ev war mit Bernstein  eng befreundet, was vielleicht weniger bekannt ist -  vor allem aber auch auf der Basis von Anochins Physiologie, eine hochmoderne Konzeption, und heute können wir es im Sinne von Edelmans neuronalem Darwinismus denken. Dies ist nach wie vor eine absolut aktuelle Denkform über die Herausbildung der psychischen Prozesse im Menschen vermittels der Aneignung der Welt in den Prozessen des Gehirns. Das hat dann natürlich die Fragen spezifiziert und beide Seiten - das Biologische und das Soziale - in ein anderes Verhältnis gestellt. Das ist in “Sozialisation und Behinderung” noch nicht geleistet, weil ich die kulturhistorische Psychologie noch nicht kannte. Aber ich war damals, wie gesagt, auf einem eigenständigen Weg, die kulturhistorische Psychologie noch einmal zu erfinden, denn die Kategorie »Isolation« war schon so angelegt, daß Leont‘ev dann nur noch den letzten Baustein lieferte, um zu sehen, dass es die veränderten hirnorganischen Prozesse sind, die den Menschen in ein anderes Verhältnis zur Welt und zu anderen Menschen bringen und - wenn die anderen Menschen dieses Verhältnis nicht kompensieren - dann hat dieser Defekt seine eigene Folge in der Sozialisation zur »Behinderung«.

Georg Feuser

Wolfgang, ich bleibe noch bei der Erinnerungsarbeit. In der Zeitschrift für Heilpädagogik erschien 1976 im Heft 7 die Zusammenfassung eines Kolloquiums zum Begriff der “Behinderung”. Verschiedene Autoren nahmen unter unterschiedlichen Aspekten auf den Behinderungsbegriff Bezug. Bedeutend erscheinen mir Deine Abhandlung und die von  Bleidick. Er arbeitet einen personorientierten, interaktionistischen, systemorientierten und gesellschaftstheoretischen Begriff von Behinderung heraus. Jedem schreibt er nur eine begrenzte Erklärungskompetenz in bezug auf den Gegenstand zu. In Deinem Beitrag arbeitest Du - wie schon in der “Demokratischen Erziehung” vom gleichen Jahr, ein Verständnis heraus, das in die zentrale Kategorie der “Isolation” mündet.[xvi] Diesbezüglich möchte ich zwei Ebenen ansprechen:

S        Den Beginn eines Paradigmenwechsels,  den ich in meiner Arbeit “Zum Verhältnis von Sonder- und Integrationspädagogik  - eine Paradigmendiskussion”[xvii] für die Heil- und Sonderpädagogik verneine, weil er sich, im Gegensatz dazu, wie oft zu lesen ist, nicht in dieser, sondern in der (kritischen und materialistischen) “Behindertenpädagogik” konstituiert hat und

S        die Begründung einer monistischen versus einer etablierten dualistischen Auffassung des Phänomens der Behinderung wie der philosophischen Grundlagen einer »Heil- und Sonderpädagogik« versus einer »Behindertenpädagogik«.

Wie siehst Du beide Momente?

 

Wolfgang Jantzen

Fangen wir mal mit Ulrich Bleidick an. Du erinnerst Dich, damals war ich noch 2. Vorsitzender im Landesverband Hessen des Verbandes Deutscher Sonderschulen (VDS), und Du warst Referent für Geistigbehindertenpädagogik auf Bundesebene. Wir waren am Bodensee, ich komme jetzt nicht mehr auf den Ort, auf einer Konferenz des Verbandes. Und dort hatten wir eine Diskussion mit Ulrich Bleidick. Zu allem, was Du sagtest, hatte Bleidick immer ein “Ja, aber ...” gebracht. Es ging immer wieder um Öffnung der Schule für Geistigbehinderte und der Debatte um die Schule für Geistigbehinderte für neue Fragen. Da hast Du irgendwann zu Bleidick gesagt: “Herr Bleidick, wir wollen nicht neue Zäune um alte Häuser bauen”. Das habe ich wahrgenommen, ein Weilchen gewartet in der Diskussion - diese ging weiter und Herr Bleidick baute immer neue Zäune um alte Häuser - dann habe ich meinen Beitrag mit den Worten eröffnet: “Auch wenn Herr Bleidick sich hier wie ein Zaunkönig aufführt .....” Das hat zu etwa 2 Minuten Pause im Bundesausschuss geführt, weil alle außer Bleidick vor Lachen auf den Tischen oder unter den Tischen lagen. Was ich damit sagen will: Was Bleidick im Rahmen des angesprochenen Kolloquium tut, ist ein Stück Strategie und ein Stück Reaktion und zwar auf “Sozialisation und Behinderung”. Ich glaube, es kann sich heute keiner mehr vorstellen, wie dieses Buch im Fach eingeschlagen hat. Ich habe das damals ja selbst auch nicht bemerkt. Ich merke es nur an der Langzeitwirkung, daran, wo das überall zitiert wird. Jetzt wird es noch in einer Studie über Armut und Ungleichheit zitiert unter dem Aspekt, ob unter Bedingungen von Behinderung eher Armut eintritt, was als Allgemeines verneint, für Teilpopulationen aber festgestellt wird.[xviii] D.h., für Sozialwissenschaftler aus völlig anderen Bereichen hat das Buch 26 Jahre nach Erscheinen noch Wirkung. Wo eine Debatte über die Geschichte der Behindertenpädagogik geführt wurde, wurde zunächst immer wieder auf dieses Buch Bezug genommen; es muß wie eine Bombe eingeschlagen haben. Was man selbst so etwas geschrieben hat – ich hatte es einfach als Vorlesung erarbeitet und publiziert – bemerkt man das selbst gar nicht so. Aber es hatte weit, weit mehr Auswirkung als der Artikel im Argument zu “Theorien zur Heilpädagogik”, der interessanter ist, weil er methodologisch schon sehr viel mehr als Programm entwickelt ist als dies “Sozialisation und Behinderung” einlöst. Also methodologisch ist der Artikel “Theorien über Heilpädagogik”[xix] interessanter; vom Ausführen her ist natürlich “Sozialisation und Behinderung” der erste richtig große Schritt. Daraufhin hat Bleidick seine Abwehrstrategie aufgebaut und die Konstruktion der Paradigmen. Wenn er genau hingeschaut hätte, hätte er im Jahrgang 1973 des “Mitteilungsblattes des Verbandes Deutscher Sonderschulen, Landesverband Hessen, damals noch  “Behindertenpädagogik in Hessen” genannt, später und heute nur noch “Behindertenpädagogik”, meinen Beitrag zur Behinderung lesen können, ein klassisch interaktionistischer Definitionsversuch. Aber nachdem Herr Bleidick sich so festgelegt hatte und zudem noch mit Theorien konfrontiert wurde, die ganz klar auf eine psychologische und auch auf eine neuropsychologische Ebenen zielten, wäre seine ganze Abwehrstrategie zusammengebrochen, wenn er etwas anderes versucht hätte. Also sind von da an diese vier Paradigmen durch die Welt gegeistert und vehement verteidigt worden mit dem einzigen Grund, durch die Postulierung, dass das, was wir machen würden, ein politökonomischer Ansatz sei, ich betone den Ausdruck des »politökonomischer«, weil damit eine assoziative Nähe zu »Politkommissar« und anderen Wortschöpfungen abwertender Natur hergestellt werden konnte, aus dem einzigen Grund also, uns zu isolieren, auszubrennen: Also – neue Zäune um alte Häuser. Das ist der Kern der Debatte.

Mit einem sozialwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Paradigma-Begriff hat das, was Herr Bleidick dort geschrieben hat überhaupt nichts zu tun. Es ist bar jeder Kenntnis in dieser Debatte. Ich will einen der Bezugsautoren in dieser Debatte zitierten, Steven Toulmin, der Anfang der 60er Jahre noch vor Kuhn den Paradigmabegriff als ein Standardmodell der Naturordnung definierte.[xx] Ein Standardmodell der Naturordnung ist beispielsweise der Aristotelische Bewegungsbegriff, der definiert ist durch die Causa finalis, also durch das Ziel, wohin die Bewegung geführt wird. Die Fahrt eines Schiffes ist also durch den Ankunftshafen Piräus definiert. An diesem Beispiel macht Toulmin deutlich, was ein Paradigmawechsel im Sinne des Standardmodells der Naturerkenntnis ist. Der nächste erfolgt zu Galilei. Bei Galilei ist die Bewegung des Schiffes nicht mehr durch das Ziel bestimmt, das Schiff würde unendlich lange auf dem Ozean fahren, wenn nicht die Reibung wäre. Der Paradigmawechsel zu Newton ist dadurch bestimmt, daß das Schiff auf gerader Linie in den Weltraum segeln würde, wenn nicht die Schwerkraft wäre und man könnte jetzt hinzufügen, der Paradigmawechsel zu Einstein ist dadurch hervorgebracht, dass alle auf dem Schiff Lebenden, würde es mit Lichtgeschwindigkeit in den Weltraum fliegen und zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Erde zurückkehren, ihre eigenen Enkel im Alter ihrer eigenen Großeltern wiederfinden könnten. Das sind Paradigmawechsel, nichts anderes. Kuhn selbst, auf den Bleidick sich vorgeblich bezieht, beschreibt die soziale Situation des Paradigmenwechsels sehr dicht am Material, sehr interessant auch, aber im wesentlichen natürlich rekurrierend auf Ludwik Fleck, der die Sozialgebundenheit des wissenschaftlichen Erkennens beschreibt, daß nämlich ein Paradigmawechsel immer in die Gemeinschaft der Wissenschaft eingebettet ist[xxi] usw. usf. Und von allem dem ist bei Bleidick nicht die Rede. Nun fragen wir aber: Ist das wirklich ein Paradigmawechsel, den wir vorgenommen haben? Ich denke, ja.

Was wir gemacht haben ist ein Paradigmawechsel. Es war ja nicht nur der Begriff der »Isolation«, mit dem gearbeitet wurde. Der Begriff der Isolation war ein Begriff, der den Übergang der biotischen und persönlichen Ebene modellierte. Ich habe später noch deutlich gemacht, dass für den Übergang  der persönlicher Ebenen und sozialen Ebene vielleicht der Begriff der »Entfremdung« besser geeignet ist. Damals, in diesem Kolloquium, habe ich auf der sozialen Ebene damit insistiert, Behinderung auch unter dem Aspekt Arbeitskraft minderer Güte zu sehen. Das war natürlich Wasser auf Bleidicks Mühlen bzw. ein ordentliches Salär für sein Zaunbaugeschäft. Gut. Weshalb Paradigmawechsel? Mit dem Begriff der Isolation ist in die Behindertenpädagogik eine strikt relationale Betrachtungsweise eingeführt worden, die Isolation immer an der Bewegung des Entwicklungsprozesses zu jedem Zeitpunkt desselben festgemacht hat. Es hat schon noch gedauert, bis das auf Entwicklungsprozesse herunter dekliniert war. Aber Isolation beschreibt eine konkrete Situation unter isolierenden Bedingungen und es hängt von der Bewegung des Subjekts ab, ob die isolierenden Bedingungen zur Isolation führen. Man kann sagen, es ist ein strikt transaktionaler Prozess zwischen allen Beteiligten und man kann die Genesis dieses Prozesses nur enthüllen, wenn man relational denkt, wenn man von allen möglichen Gesichtspunkten her jeweils alle anderen denkt. Das ist im Grunde eine nachrelativistische Sichtweise. D.h., wir haben einen Sprung gemacht, direkt von einem Aristotelischen Paradigma im Übergang zum Galileischen in das nachrelativistische Paradigma - aber das hat niemand verstanden.

Natürlich habe ich den Begriff der “funktionellen Hirnorgane” von Leont‘ev übernommen, aber darüber hinaus habe ich noch nichts von der kulturhistorischen Theorie gehabt. Ich habe auch andere Teilstücke übernommen, sie aber noch nicht denken können, denn ich habe sie für das, was ich schon gedacht habe, als Beleg durch befreundete Wissenschaftler genommen, die die gleiche Blickrichtung haben und somit die kulturhistorische Schule selbst noch ein Stück weit erfunden. Aber auch eine konstruktivistische Theorie lange, lange bevor vom Konstruktivismus im Fach die Rede war.

Was heißt das nun für die Ebene der Biologie, für die Ebene der Ökonomie und für die jetzt dazwischen entstehende Ebene der Psychologie? Für die Ebene der Biologie heißt es: Das Gehirn als Organ hat zu begreifen, daß unter Bedingungen seiner Selbstorganisation funktionelle Organsysteme entwickelt. Neuronaler Darwinismus heißt das heute bei Edelman und entscheidend für diese Selbstentwicklung ist natürlich die Bekräftigung der eigenen Wahrnehmung durch Handlungen. Das ist relativ früh schon durch die Rezeption von Leont‘ev aber auch noch mal durch die Rezeption von Anochin mit eingegangen. Leont‘ev hat aber zu mehr geführt. Das Problem geistiger Behinderung bedeutet ein so elementares Zurückwerfen auf Minimalia der Möglichkeiten, ein Zurückwerfen darauf, sich ohne umfassendste, fremde Unterstützung zu sozialisieren, daß man selbstverständlich auch noch nach der Genesis der da hineinwirkenden biotischen Prozesse fragen muss. Das hat für mich bedeutet, mich sehr ausführlich mit Epigenetik zu beschäftigen, also der Frage nachzugehen, wie die embryonalen Konstruktionen nach der Verschmelzung von Ei und Spermium stattfinden. Ich habe übrigens, was kaum jemand weiß, an der Universität mehrfach Veranstaltungszyklen über vorgeburtliche Entwicklung der Psyche und der Tätigkeit abgehalten; natürlich eingebettet in die Frage der epigenetischen Konstruktion.

Leont‘evs Bemerkung, erhärtet durch Forschungen, daß auch die Hautzellen des Menschen noch sensibel für Licht sind - er hat das mit der einfachen Sensibilität früher Lebewesen in Verbindung gebracht - hat mich dazu geführt, auch seinen Ansatz der Genesis des Psychischen in der Naturgeschichte noch mal grundsätzlich zu hinterfragen, Reduktionismen, die ich meine, bei Leont‘ev zu sehen, aufzudecken und auch hier evolutionsbiologisch und naturhistorisch eine gewisse Alternative zu erarbeiten, die zwischen Leont‘ev und einer evolutionären Erkenntnistheorie liegt. Auf der anderen Seite ist auch weiter spezifiziert worden, was damals im Rahmen des Kolloquiums in die Bestimmung der politischen Ökonomie mit einging und der resultierende nächste Spezifizierungsschritt war das Buch “Soziologie der Sonderschule”, in dem ich mich sehr ausführlich mit einer Reihe von Thesen der damals in den Sozialwissenschaften im linken Spektrum heiß diskutierten Frage um die produktive und unproduktive Arbeit auseinandergesetzt habe. Eine pädagogische Arbeit ist wertschaffende aber unproduktive Arbeit, weil sie nicht direkt an der Güterproduktion teilhat usw. Das sind wichtige Bestimmungen, um soziologisch weiterzukommen - dass wir nicht so weit waren, wie wir heute sind, damals Bourdieu nicht gekannt haben, das ist einfach der Verlauf von Geschichte, aber das Kategoriengefüge war an dieser Stelle relational angelegt, nicht starr. Und dazwischen ist Stück für Stück im Kontext des Begriffes der Isolation eine neue Psychologie entstanden. Sie taucht erstmalig in einer Auftaktsammlung auf, die bei Pahl Rugenstein in Köln 1978 erschienen ist: “Behindertenpädagogik, Persönlichkeitstheorie, Therapie”. Sie ist vor allem mit den Studierenden meines ersten Projekts an der Universität Bremen erarbeitet worden. Isolation führt, den Gedanken habe ich von Dir aufgenommen, zu einer »inneren Reproduktion der Isolation« und dem sind wir nachgegangen und haben verschiedene Ebenen festgestellt. Isolation wirkt zunächst als Über- oder Unterstimulation auf der Wahrnehmungsebene. Sofern das Individuum über entsprechende kognitive Schemata verfügt, ist das kein Problem, das wird bewältigt. Wenn es nicht über kognitive Schemata verfügt, es zu bewältigen, kommt ins Spiel, ob es sich solche über Kooperation holen kann. Wenn es also gelernt hat, zu kooperieren oder technische Hilfsmittel zu Verfügung hat, wird das Problem auch bewältigt. Erst danach kommen emotionale Prozesse, Stress und verschiedene psychopathologische Umbildungen massiv ins Spiel. D.h., nach 1978 war dieses konstruktivistische Modell der Isolation für die Prozesse des Psychischen bereits mit einem Handlungsregulationsmodell versehen und ausgebaut, was dann dazu führte, nach der Entwicklungspsychologie zu fragen - nach mit der zunehmend erschließbaren Tätigkeitstheorie der kulturhistorischen Schule verknüpften Theorien, aber auch  nach allen anderen. Es galt festzustellen, daß das Problem der inneren Differenzierung der psychischen Prozesse eben nicht alleine mit einer Handlungsregulationstheorie zu lösen ist. Das deute ich jetzt nur an. Aber diese entscheidenden Grundlagen sind gesetzt worden und aus diesen Anfängen heraus wurde eine systematische, relationale Wissenschaft entwickelt, die auf der Ebene der Soziologie  keinerlei Schwierigkeiten hat, anschlußfähig zu sein gegenüber einer relationalen Theorie bei Bourdieu, das ist schon in der “Allgemeinen Behindertenpädagogik” zu lesen, keinerlei Probleme hat, mit einer konstruktivistischen Biologie umzugehen, wie sie in der Debatte um die Epigenese, um die Theorien von Waddington und anderen kommt, und natürlich erst recht keinerlei Probleme hat, einen Konstruktivismus innerhalb der Psychologie aufzunehmen, wenn er kommt. Ich behaupte aber, lange vor dem Konstruktivismus Maturanas war diese Theorie in sich schon konstruktivistisch und durch den Rekurs auf Anochin, Bernstein, Leont‘ev und Vygotskij in sehr viel höherem Maße mit Kategorien ausgestattet als es die Maturana-Theorie bis heute ist. Insofern war es wirklich, denke ich, ein echter Paradigma-Wechsel aber mit Überspringen von bestimmten Stufen, wenn ich mich auf Toulmin beziehe.

 

Georg Feuser

Wolfgang, könntest Du im Kontext Deiner Ausführungen doch noch einmal mit ein paar Worten auf das Verhältnis Monismus – Dualismus eingehen?

 

Wolfgang Jantzen

Das ist natürlich eine Kernfrage einer Humanwissenschaft. Was deutlich ist, daß wir - ich sage jetzt »wir«, weil es immer viele Leute waren, mit denen ich zusammengearbeitet habe, denen ich meine Ideen schulde -  niemals einem mechanischen Materialismus das Wort geredet haben. Wir haben auch niemals einem Dualismus das Wort geredet. Aber wie kann man dann Ideelles und Materielles zusammendenken ohne letztlich nicht doch in der dualistischen oder parallelistischen Falle zu laden? Selbst Leont‘ev hält Vygotskij vor, in seinen Materialien über das Bewußtsein 1989/90 in der Activity Theory posthum publiziert[xxii], daß es eine unlösbare Frage sei, d. h. selbst Leont’ev hat im Kern das Problem des Dualismus zwischen sozialen und psychischen Leib und Seele usw., an irgend einer Stelle nicht für lösbar gehalten. Bei Vygotskij ist es nicht ganz klar zu sehen, was er davon hält. Man kann nur sehen, was er damit macht. Zumindestens ist es ganz deutlich, daß Vygotskij immer nach einer monistischen Variante strebt, die zugleich eine konstruktivistische ist, wie in “Konkrete Psychologie des Menschen” herausgearbeitet wird.[xxiii] Der Mensch erlebt seine Situation in der Situation seines Erlebens der Umwelt als Drama unter dramatischen Umständen und lebt in diesen dramatischen Umständen mal mehr oder mal weniger dramatisch. Also insofern ist eine konkrete Psychologie erst einmal eine dramatische, subjektbezogene Psychologie. Aber wenn man nochmals zurückgeht: Der Kern aller zu lösenden Dualismen ist natürlich das Leib-Seele-Problem. Und dann haben wir ja noch aus dem vorigen Jahrhundert die berühmte Aussage von DuBois-Reymond: Ignoramus – ignorabimus = Wir wissen es nicht und wir werden es nicht wissen. Und ich denke, auch viele heutige Theorien, nein, fast alle heutigen Theorien gelangen bestenfalls, bei dem Versuch das zu klären, bis zu irgendeiner Art Parallelismus. Dieser Parallelismus kann heißen: Es gibt zwei eigenständige Ebenen vom Psychischen und Sozialen, was letztenendes .. oder vom Psychischen und Biologischen, muß noch mal anders sagen: Letztlich sind das ... ist das die cartesianische Frage, ob ich erkennende Substanz und ausgedehnte Substanz irgendwo in Verbindung bringen kann, was Spinoza behauptet, daß also Erkennen und Ausdehnen zwei Attribute einer Substanz sind, oder ob es eigenständige Entitäten gegenüber einander sind. Das Psychische wird im modernen Materialismus, nehmen wir mal Roth und Flohr an unserer Universität, als Epiphänomen der biologischen Prozesse betrachtet. Und natürlich kann ich das Psychische auch als Epiphänomen des sozialen Prozesses betrachten, das war Leont’evs Vorbehalt gegen Vygotskij, der vermutet hat, daß Vygotskij zu dem Zeitpunkt den Weg der französischen Soziologie gegangen sei. Wenn man das nicht tut, was ist die eigenständige Existenz des Psychischen? Man kann ein Stück weitergehen und kann sagen: Die eigene Existenzebene des Psychischen ist die Sprache, damit verlagert man den Dualismus in die Sprache. So hat es Chomsky getan, etwa in seiner cartesianischen Linguistik, aber trotzdem, wie kriegt man den Monismus, das Beste ist Parallelismus, was alle kriegen. Und nun knüpfe ich an dem Punkt anders an. Ich glaube, daß eine Lösung dieses Leib-Seele-Problems oder des Gehirn-Psyche-Problems, nehmen wir das erstmal, darin liegt, daß der Parallelismus lokal ist und daß er monistisch immer wieder global gebrochen wird. Folgendes Beispiel: Freeman hat diese sehr schöne Vorlesung “Societies of brains” in der Wahrnehmung des Spinoza-Lehrstuhls in Amsterdam gehalten.[xxiv] Und im Einleitungskapitel macht er klar, daß man das Gehirn keinerlei äußerem Determinismus unterwerfen kann, an folgendem Beispiel: Wenn ein Kaninchen irgend etwas wahrnimmt, nehmen wir an eine Mohrrübe, dann verschwindet dieses Bild der Mohrrübe, daß sich über evozierte Potentiale in den Sinnessystemen ableiten kann, in den Hintergrundmustern des gesamten Gehirns, Es ist spurlos verschwunden. Im Falle Mohrrübe darf ich annehmen, daß es so in den Hintergrundmustern des Gesamtgehirns verschwindet, daß es ohne Interferenzen verschwindet, sondern bestimmte Phasen verstärkt. Wäre es aber keine Mohrrübe sondern irgend etwas höchst Unangenehmes, was dem Kaninchen passiert, würde das zu Interferenzen führen, d. h. zu Interferenzen mit der Geschichte des Gehirns, die sich, so Edelman als remembered present – also erinnerte Gegenwart – realisiert. D. h. das Gehirn konstruiert in jedem Augenblick was gut für es ist und insofern, als es auch rekonstruiert, was gut für es gewesen ist, verfügt es über Handlungsalternativen über die bloße Gegenwart hinaus und diese brechen die bloße Gegenwart. Was ist aber dann parallel? Die Physiologie, Psychologie eines Teilbereichs der Wahrnehmung ist in sich parallel. Aber da sie gleichzeitig in Interferenz zum gesamten Muster des Gehirns besteht, besteht keine Parallelität zwischen Teilbereich und Gesamtmuster. Also die Parallelität existiert ständig lokal und wird global immer wieder gebrochen. Das ist die Lösung, die man eigentlich anbieten kann. Und gebrochen werden kann sie natürlich nur durch die individualisierte Erfahrung, durch die individualisierte Weltkonstruktion, wie es auch die Konstruktivisten schon sehen, in die selbstverständlich Urbilder hineingehen, und die vergesellschaftet werden kann über sozialen Austausch der von Anfang an gegeben sein muß, also über sozialen Austausch gemeinsam konstruierter Zeit, die die Grundlegung allen Lernens ist, so daß wir zudem überindividuelle Organisationsprozesse haben, die den lokalen Parallelismus des Gehirns ständig wieder brechen. D. h., das Gehirn verfügt über einen Inhalt, der nicht sein eigener ist, sondern der Inhalt der Welt ist, so hat es Leont’ev mal ausgedrückt. Soweit zu diesem Problem, was wirklich ein eminent schwieriges und komplexes Gebiet ist. Aber ich denke zumindest von den Anfängen her, es war richtig, nach einer solchen monistischen Lösung zu suchen und sie läßt sich herstellen. Wie weit sie tragfähig ist, das muß hier erst einmal der wissenschaftliche Diskurs überprüfen, aber sie löst zumindestens eine Reihe von theoretischen Fragen mehr als die mir im Moment bekannten anderen Modelle zum Leib-Seele-Problem. Sie bedarf natürlich noch mal der Publikation, ich habe das schon mal vorgetragen bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, bei deren Philosophischen Arbeitskreis, also bei den abgewickelten DDR-Philosophen. Das war höchst interessant, ich habe viel Anerkennung dafür bekommen, aber in der Form ist es noch nicht publiziert.

Georg Feuser

Wir sind uns, wenn ich es recht erinnere, 1968 in Gießen begegnet. In den letzten Monaten sind die 68er bis ins Parlament hinein ‘wiederbelebt‘ worden, um sie - und damit eine ganze Generation - erneut zu diffamieren und dadurch geistig zu vernichten. Wie hast Du diese Debatten - auch in Relation zur Gewaltfrage - aufgenommen und welche Bedeutung hatte diese Bewegung für Deine Arbeit als Lehrer an der Anna-Freud-Schule in Lich und Deiner späteren wissenschaftlichen Tätigkeit am Institut für Heil- und Sonderpädagogik der Philipps-Universität Marburg?

 

Wolfgang Jantzen

Diese Debatte ist an mir runtergeronnen wie Regen von einem Ostfriesennerz (einer gelben Regenjacke) weil ich nicht die Wirklichkeit darin sehen kann, die es wirklich gehabt hat. Es hat in der 68er–Debatte einen Bruch mit einer Geschichte gegeben, die nach 1945 fortgeschrieben wurde. Man muß sich nur die Kulturberichterstattung über diese Zeit durchlesen, man muß sehen, wie die alten Kriegshelden gefeiert wurden, wenn sie aus den Gefängnissen herauskamen, wie die Kommunisten wieder diffamiert wurden usw. Das habe ich damals alles nicht so wahrgenommen, weil ich ja in einer ganz anderen Sozialisation groß geworden bin. Bei uns zu Hause sah das so aus: Der Bücherschrank war voll mit Kriegsbüchern. Ich habe mit Begeisterung das Buch über Narvik gelesen und viele andere Dinge. Ich habe also eine ganze Ideologie, die einfach präsent war, voll in mich hineingesogen. Und das war überall so. Man darf nicht so tun, als ob da nach 1945 ein Bruch gewesen wäre. Man darf auch nicht so tun, als ob ein Bruch dadurch zustande käme, dass oberhalb unserer Generation alle ausgestorben sind und wir und jüngere nicht mehr aktiv durch den Hitlerfaschismus sozialisiert worden sind. Wir waren 4 Jahre alt als das System zusammengebrochen ist, die Sozialisation ist aber lange, lange, lange Jahre in diesem Sinne weitergegangen. Aber 1968 gab es einen Bruch damit. Wir haben uns unserer eigenen Väter entledigt, das hat Mitscherlich schon ganz richtig gesehen, und unsere Existenz neu gegründet, indem wir nach unseren geistigen Vätern gesucht haben. Ich hatte vorhin z.B. schon einmal auf Walter Benjamin verwiesen. Die Frage, die sich stellt, ist, wie der historische Materialismus geschichtsmächtig werden kann, fragte er in seinen geschichtsphilosophischen Thesen,[xxv] indem er sich mit der verachteten Theologie verbündet und in striktem Atheismus, der erhalten bleibt, die schwache messianische Kompetenz wahrnimmt, die jeder Generation bleibt, nämlich die Geschichte gegen die Geschichte der Sieger zu schreiben. Es geht darum, die Geschichte der Unterlegenen präsent zu halten und deren Hoffnungen ein Stück weit einzulösen, indem ein anderes Leben realisiert wird. Nichts anderes haben die 68er getan, nichts anderes haben sie versucht - mit allen menschlichen Schwächen, allen Korruptionsversuchen, allen persönlichen Fehlern, allen Verirrungen. Das alles ragt da hinein. Aber dieses entscheidende Nein-Sagen, das war präsent. Ich erinnere mich - und ich gebrauche bewußt dieses Wort - als nach dem »Mord« an Benno Ohnesorg und dem Attentat auf Rudi Dutschke die großen Demonstrationen erfolgten. Da zeigte sich, wie groß die Empörung war und wie einfach ein Schlußstrich gegenüber allen denen gezogen wurde, den wir bisher immer noch versucht hatten, zu glauben. Und in der Folge zeigte sich, daß dieses Schlußstrich-Ziehen, auch berechtigt war. Wir haben ja auch im Verband Deutscher Sonderschulen versucht, uns vernünftig mit der Generation vorher zu verständigen. Aber allein die Tatsache, daß wir versucht haben, einen Kollektiv-Vorstand zu machen, also nichts anderes, als uns die Arbeit aufzuteilen, hat zu fürchterlichen Auseinandersetzungen über ganz Hessen geführt, die von den Leuten geführt wurde, die genau den alten ordnungsstaatlichen, autoritären Denkformen so verhaftet waren, daß das bis in eine menschenverachtende Sprache hineingegangen ist. Ich erinnere an einen damaligen Oberschulrat beim Regierungspräsidenten in Darmstadt, der in einem Papier zu “Die Ausdrucksdiagnostik von Hilfsschülern” die Begriffe “hündisch” und “obszön” zur Kennzeichnung von Hilfsschülern vorgeschlagen hatte. Ich erinnere an einen anderen Oberschulrat, der aktiv bei der Wehrertüchtigung von Hilfsschülern für die Nazi-Wehrmacht beteiligt war. Diese Gegensätze haben sich natürlich alle und auf jeder Ebene gebrochen, auch wenn wir noch so freundlich waren, entgegenkommend im persönlichen Bereich, natürlich kontrovers im Politischen - es gab überhaupt keine Chance etwas auf dem Verhandlungswege zu erreichen. Es ging auf Biegen und Brechen und wo wir es mit Biegen versucht haben, ließ sich nichts biegen. Das gleiche geschah auch mit den großen Kontroversen im Fach. Ich habe mir keine dieser Kontroversen an Land gezogen; sie sind gegen uns eröffnet worden.

Mit den in diesem Kontext entstandenen Fragen, was ja auch Verantwortung aufwirft, habe ich mich lange Jahre auseinandergesetzt. Mit der Frage z.B., ob der Weg der RAF berechtigt ist, war die Auseinandersetzung schon Anfang der 70er Jahre eine um die Frage der Gewalt. Die Auseinandersetzung war längst geführt, bevor Fischer seine Straßenschlachten gemacht hat. Vieles hat überhaupt nicht mit 1968 zu tun, sondern ist eher eine Art Nachbewegung. In der ganzen Debatte geht auch völlig unter, daß ein wesentlicher Zweig der 68er Bewegung nicht in den schwarzen Flügel gegangen ist, aus dem z.B. Fischer und Trittin kommen, sondern in den roten Flügel, der diese Republik auch entscheidend verändert hat, indem er z.B. die Friedensbewegung wesentlich mitorganisiert hat usw. usf.. Also, die gegenwärtige Debatte geht mir ohne jede Bedeutung runter - ich weiß woher die Debatte kommt.

Ich sprach von Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke und dem Bewußtseinsbruch, den das damals hervorgebracht hat. Wenn man den Autoritäten nicht mehr glauben konnte, was sollte man dann glauben? Woher sich neu orientieren? Ich glaube, daß in diesem Umbruch letztlich auch ein Stück eigener Umkehr stattgefunden hat. Ich will das an einem Beispiel zeigen: Ich bin ja in dieser Geschichte sozialisiert worden, wurde in einer Familie groß - mein Vater war im Krieg gefallen - in der beide Eltern aktiv in irgendeiner Form  mit dem Nazi-System liiert waren, wurde von meiner Großmutter großgezogen, die evangelische Pfarrersfrau war, einerseits sehr liebevoll und andererseits autoritär bis in die Knochen - wie das halt so war. Mit der Bibel ausgestattet und vor allem einem christlichen Humanismus, der ganz dicht am Terrorismus gebaut war, wurde ich Lehrer. 1966, gleich nach dem Ersten Staatsexamen, also ohne Sonderschullehrer-Ausbildung, arbeitete ich an einer Sonderschule für Lernbehinderte. Meine Rektorin, eine evangelische Pfarrersfrau, sagte zu mir: “Herr Jantzen, Sie kommen da in eine Klasse, die hat gerade einen alten Kollegen aus der Volksschule verheizt und da werden Sie sich durchsetzen müssen - hauen Sie einfach drauf.” Und ich habe draufgehauen, etwa 2 Jahre. Und im Umbruch in jener Zeit - das hat sicherlich auch etwas mit den Diskussionen jener Zeit zu tun - habe ich eines Morgens einen Schüler geohrfeigt. Der fiel um und ich bin furchtbar erschrocken, weniger weil er umfiel, was schon schlimm war, sondern weil ich plötzlich dachte: “Mensch, was machst du hier, was machst du hier?” Ich wußte, daß der Schüler morgens um 5 Uhr aufgestanden ist, daß er auf dem Hof helfen mußte. Das Ganze ging wie ein Blitzlicht, wie ein Film im Zeitraffer durch meinen Kopf. Ich habe mich fürchterlich geschämt. Nachdem wir uns einigermaßen alle wieder berappelt haben, habe ich das meiner Klasse erklärt und gesagt, dass ich nie wieder ein Kind schlagen werde. Das habe ich durchgehalten. Das war allerdings auch eines der Belegstücke, die mir dann später in der Weise zugeschrieben wurden, dass ich Schüler kommunistisch  indoktriniert habe.

Diese persönliche Umkehr, das ist ein wesentlicher Punkt in jener Zeit, sich neu zu orientieren, sich woanders anzubinden. Ich kann heute sagen, wie diese Anbindung funktioniert. Aber es kam noch etwas hinzu. Es war ja eine außerordentliche Situation und wer das nicht erlebt hat, der kann das nicht nachvollziehen: Es war Progrom-Stimmung. Das Attentat auf Rudi Dutschke zeigt nur die Spitze eines Eisberges. In Provinzzeitungen, etwa in Gießen, in einem an alle Haushalte verteilten Anzeigenblatt, glaube ich, gab es eine fürchterliche Hetzkampagne auch unter Namensnennung von verschiedenen Leuten. Man konnte nicht einmal den Begriff “Gesellschaft” oder “gesellschaftlich” in den Mund nehmen, ohne geächtet zu sein. Die Aussage, “gesellschaftlich vermittelt”, hatte eine Wirkung, als würde man heute den Bundeskanzler in einer SPD-Versammlung als ein ausgemachtes Arschloch titulieren würde. Etwa diese Art an Ächtung hat man sich zugezogen und wahrscheinlich damals noch mehr als man das heute mit einer solchen Aussage tun würde.

Die damalige Bewegung hatte eine enorme Bedeutung, weil ich im Kontext dieser Bewegung mit meiner bisherigen Sozialisation gebrochen habe. Was war der Kernpunkt des Bruches eigentlich, warum habe ich den vollzogen? Das ist eine Frage, die ich mir oft gestellt habe und heute kann ich sie beantworten: Weil ich in diesem gedemütigten Jungen, der zusammenfiel, als er diese Ohrfeige bekam, mich selbst wiederentdeckt habe, als jemand, der seine ganzen Schuljahre hindurch auch gedemütigt wurde. Und damit war klar und emotional begründet, warum ich das nie wieder tun würde. Das war nicht wegen der Schüler oder irgendeiner äußeren Bedingung, es war wegen mir selbst,  im eigenen Interesse, das nie wieder zu tun. Das hat natürlich ungeheure Folgen gehabt für die Art, wie ich meinen Unterricht begriffen habe, wie ich pädagogisch gearbeitet habe, wie ich gedacht habe. Es hat so einige zentrale Umkehrungen in meinem Leben gegeben, aber das war, glaube ich, die erste zentrale von sehr großer Wirkung.

 

Georg Feuser

Ausgehend von diesen Erörterungen könnten wir jetzt auch zu Fragen der rehistorisierenden Diagnostik übergehen. Ich möchte aber noch in dieser Zeit bleiben. Eine unserer damals gemeinsam getragenen Zielsetzungen war unter anderen, im Verband Deutscher Sonderschulen - heute Fachverband für Behindertenpädagogik (vds) - gegen eine traditionell-konservative, durch die Vernichtung behinderter Menschen im Hitler-Faschismus kaum »geläuterte« Auffassung über Behinderung und über die Erziehung und Bildung behinderter Kinder und Jugendlicher, wirksam zu werden. Ich konnte, Du hast es schon erwähnt, ab 1971 als Referent für Geistigbehindertenpädagogik im Bundesausschuß des VDS tätig werden, Du im Landesverband Hessen (LV-H) auf Vorstandsebene. Dort trafen wir wieder zusammen und bauten die Zeitschrift “Behindertenpädagogik” auf.

Ich habe bei Renovierungsarbeiten in den vielen Papierstapeln vor kurzem ein Schreiben wiedergefunden, in dem der damalige Vorsitzende des LV-H im VDS in einem Rundschreiben an alle Mitglieder vor uns warnt. Mit dem “Gelnhausener-Papier” wurde, durchaus auch aus VDS-Ecke mit harten Diffamierungen Dein Wechsel an die Uni Marburg zu verhindern versucht. Im Bundesverband arbeiteten wir uns - ich für 18 Jahre - an dem in seinen Auffassungen teils reaktionären Triumvirat des Bundesvorstandes ab, das mit den Namen Prändl als Vorsitzender und Wenz als Geschäftsführer verbunden ist, wie in der Schriftleitung mit den Herren Bleidick und Kanter.

Welche Bedeutungszumessung läßt Dich die Erinnerung an diese Zusammenhänge aus heutiger Perspektive vornehmen?

 

Wolfgang Jantzen

Ich denke aus heutiger Perspektive, wir haben nichts anderes getan als Demokratie eingeklagt. Und wir haben gleichzeitig eingeklagt, das macht ja eigentlich dann den Ansatzpunkt des sog. Gelnhausener Papieres fest, daß man dringend eine Debatte über eine Schule für alle führen muß. D.h., man kann sich eine Gesamtschule nicht vorstellen, wenn nicht Sonderschüler in der Gesamtschule sind. Das war der eigentliche Punkt. Und das ist im Gelnhausener Papier als Verhetzung zum Klassenkampf gekennzeichnet worden. Das Gelnhausener Papier hat übrigens nichts mit meiner Berufung nach Marburg zu tun. Ich war schon in Marburg, aber es gab durchaus Leute, die das versuchten zu verhindern. Ich habe schon die Diskussion auf dem Vorschulkongreß in Hannover erwähnt, 1970 war das, glaube ich, nach der es Anrufe gab. Und zwar vom damaligen Vorsitzenden der Lebenshilfe in Marburg an das Marburger Institut mit dem Hinweis, ob es denn wirklich nötig sei, einen so entsetzlichen Menschen am Institut einzustellen. Ich will dazu keine Namen nennen, das wäre unfein, weil die Personen schon verstorben sind. Aber dieser damalige Vorsitzende der Lebenshilfe war übrigens auch einer, von denen Du gesprochen hast, der sich im Hitler-Faschismus schuldig gemacht hat, in zumindest zwei nachweisbaren Fällen von Gutachten zur Sterilisation von Hilfsschülern, wie wir es erst später aufdecken konnten.

Aber lassen wir das. Diese ganze Generation hätte gut daran getan hätte, einfach zu sagen: Wir haben das getan und wir stehen dazu, und wir möchten uns ändern, anstatt ihre Verbrechen immer wieder zu vertuschen. Was sie getan haben hätten wir wahrscheinlich in solchen Zeiten und in vergleichbaren Situation auch getan. Ich muß an meine eigene Sozialisation denken. Wenn ich Kinder geschlagen habe, hätte ich in anderen Verhältnissen wahrscheinlich auch Gutachten für die Sterilisationen geschrieben. Aber in einer Zeit, zu der es möglich war, das zu überdenken, es nicht überdacht zu haben, das ist wirklich sträflich. Das war also die eine Ecke, aus der dieses sog. Gelnhausener Papier kam. Ausgehend von dem Ort Gelnhausen, gruppiert um eine Sonderschule, deren Rektor damals sinniger Weise auch mit im Landesvorstand war, wurde das Papier als Petition dreimal an den Hessischen Landtag geschickt, dreimal! Dies jeweils mit der Aufforderung, mich und zwei Kollegen an der Universität Marburg, Herrn Probst und Herrn Rittberg, aus dem Dienst zu entfernen, also ein Berufsverbot zu verhängen. Schlicht und einfach weil wir uns vehement dafür ausgesprochen haben, daß auch lernbehinderte Sonderschüler an die Gesamtschule kommen, wegen nichts anderem. Das war das Gelnhauser Papier, das dann der Zeitschrift für Heilpädagogik zugespielt worden ist, die es natürlich gerne publiziert hat, um uns in der Öffentlichkeit zu schaden. In bezug auf mich ist das durchaus gelungen. Es hat mir eine Bewerbung in Köln, zu der Herr Kanter mich animiert hatte, kaputtgemacht. Ich muß übrigens aus den Personen, die Du genannt hast, Herrn Kanter ausdrücklich herausnehmen. Herr Kanter kommt aus einer antifaschistischen Familie. Er hat zwar zum Teil auch eine Auffassung von Antifaschismus vertreten, in der man meinte, aus der Familienerfahrung heraus bestimmen zu können, wie man sich verhalten muß, als wir 1975 vehement gegen eine Südafrika-Reise von Sonderpädagogen interveniert haben. Er hat sehr stark dagegengehalten. Auf der anderen Seite hat er damals ein Buch von mir, “Der Grundriß einer allgemeine Psychopathologie und Psychotherapie”, das 1979 erschienen ist, in der Zeitschrift für Heilpädagogik außerordentlich fair besprochen. Herr Bleidick hat sich in all den Jahren wirklich immer wieder als Wadenbeißer des Vorstands offenbart. Er hat nie etwas zurückgenommen und teilte immer aus - bis hin zu einer Diffamierungskampagne durch die gesamte Bundesrepublik nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, wo er mich wider besseren Wissen, er hätte nur meine Leipziger Vorlesung[xxvi] lesen müssen, überall als Stalinisten gekennzeichnet hat. Das war schon übel. Ich habe meinen Frieden mit ihm in der Weise geschlossen, als ich einem alten Mann und verdienten Kollegen nichts tue, aber die Geschichte bleibt Geschichte und was darin demagogisch und eine Politik mit absolut unfairen und undemokratischen Mitteln war, das bleibt das auch.

Zu den Herren Prändl und Wenz muß ich nichts sagen. Herr Prändl hat sich selbst disqualifiziert, als er 1981 in Braunschweig die Integrationsbewegung eine “italienische Seuche” genannt hat. Man muß wissen, was »italienische Seuche« meint; das haben viele nicht gewußt. In einigen Regionen in Italien heißt es die “französische Seuche” und damit ist nichts anderes als die Syphillis gemeint. Die Integration ist also die Syphillis, die über uns gekommen ist. Ich glaube, das muß man nicht weiter kommentieren. Das alles waren sehr bewegte und interessante Zeiten, aber weiter darüber zu erzählen sprengt wohl den Rahmen des Gesprächs.

 

Georg Feuser

Dein Ruf nach Bremen erfolgte 1974. Du warst der erste Hochschullehrer des aufzubauenden Studiengangs “Behindertenpädagogik” an einer noch sehr jungen Universität, an einer Reformuniversität. Heute, so meine Sicht, wird sie zu einer nahezu ausschließlich an wirtschaftlichem Nutzen orientierten, technologiedominierten Universität, die dem Lehrgebiet Behindertenpädagogik allenfalls die Funktion eines »Blinddarms« im organismisch Ganzen zugesteht. In Relation zur Ausgangssituation mit Aufnahme Deiner Lehr- und Forschungstätigkeit entsteht die Frage, ob Dir, ob uns noch eine Perspektive für die nächsten Jahre bleibt. Auf der anderen Seite sind z.B. Kognitionswissenschaften seitens der Psychologie und Neurowissenschaften seitens der Biologie allgemein hoch favorisierte Forschungsfelder. Das Lehrgebiet Pflegewissenschaften ist relativ neu entstanden. Wie siehst Du Deine weitere universitäre Tätigkeit mit Reflex auf die von mir angesprochenen Bereiche und, so könnte man schon sagen, ihre geschichtlichen Dimensionen?

 

Wolfgang Jantzen

Wissenschaft ist kein gesellschaftsfreier Bereich. Wissenschaft ist eine Zone, die sich wie alle sozialen Zonen oder Felder in Bereichen von Macht und Ohnmacht ratifiziert und die in ein größeres gesellschaftliches Feld der Macht eingebettet ist. Mit den Berufungen der ersten Jahre, in einer Zeit, wo gesellschaftliches Denken, kritisches Denken en vogue war, ist, unter Aufnahme der hochschulpolitischen Vorstellungen des DGB mit grundsätzlicher Demokratisierung der Hochschule mit Drittelparität usw., eine Politik versucht worden, im Feld der Macht der real existierenden Bundesrepublik andere Dimensionen von Lehre und Forschung zu etablieren. In dem ersten Projekt an der Universität, das ich 1975 bis 1978 durchgeführt habe, mußte ich gegenüber den Studierenden verteidigen, auch Veranstaltungen zu nicht-marxistischen Themen gemacht zu haben, so z.B. dass ich George Herbert Meads “Geist Identität und Gesellschaft” für einen absolut zentralen Text der Sozialwissenschaften halte. Das ist übrigens im Rückgriff auf das interaktionistische Paradigma bei Bleidick, über das wir gesprochen haben, ganz spannend. Denn zu der Zeit, als er das politökomische Paradigma als Kennzeichnung für uns erfunden hat, habe ich demnach sein interaktionistisches Paradigma gegen das politökonomische verteidigt. Dieses Projekt, das ich zusammen mit Walter Heinz veranstaltete, war insgesamt eine wunderbare Veranstaltung, die viel Freude gemacht hat und durch die wir alle viel gelernt haben.

Dieses Feld der Macht war relativ stark. Und in diesem Feld der Macht habe ich trotz unglaublicher Schwierigkeiten dieses Fach an der Universität so sichtbar etabliert wie es, glaube ich, an keiner deutschen Universität etabliert war und heute immer noch ist. Kein Fach im Aufbau ist so beschossen worden, wie die Behindertenpädagogik. Dieses Feld der Macht ist durch meinen Ruf auf die Wilhelm-Wundt-Professur 1987/88 enorm verstärkt worden. Die Wilhelm-Wundt-Professur war eine Professur, die in der DDR, in Leipzig, nach dem Weltkongreß für Psychologie eingerichtet wurde, der der DDR enormes Ansehen auf dem Gebiet der Psychologie verschafft hat. Friedhard Klix war lange Vorsitzender der Weltorganisation der Psychologen und es gelang ihm, diese Gastprofessur einzurichten, um Wissenschaftler aus dem Ausland holen und bezahlen zu können. Das war einer der begehrtesten Lehrstühle in Europa. Ich habe ihn als erster Bundesdeutscher 1987/88 wahrgenommen und auch als einziger Bundesdeutscher eine Gastprofessur in der DDR gehabt, so lange sie bestand. Darauf war unsere Universität hier mächtig stolz, obwohl der Umbruch schon da war. Aber mit dem Verfall dieses Feldes der Macht und mit dem Verfall des Realsozialismus ist das mir zugesprochene symbolische Kapital genauso entwertet worden, wie die “Alu-Chips” (also das Münzgeld) der DDR. Dass ich mich nach wie vor deutlich für das sozialistische Projekt engagiert habe, hat seinerseits in bezug auf diese Entwertung nicht unbedingt positiv aufhaltend beigetragen. Ich habe noch in den Umbruchzeiten in der DKP dafür gekämpft, daß diese eine pluralistische kommunistische Partei wird und habe dann die PDS mitgegründet, weil die PDS auf solch einem Pluralismus aufbaut und war leichtsinnig genug, für den Bundestag zu kandidieren. Danach bin ich aus der PDS ausgetreten, weil ich für bestimmte Dinge keine Verantwortung mehr übernehmen wollte, und bin seitdem auch parteipolitisch ungebunden, aber das ist mir sehr übel genommen worden. In dieser Zeit ist mein symbolisches Kapital an der Universität sozusagen auf Null geschwunden. Ein außeruniversitärer Kollege, der einen Professor der Neurowissenschaften gefragt hat, warum man denn mit mir bei dem Projekt Kognitionswissenschaften und Neurowissenschaften nicht zusammenarbeitet, dem ist gesagt worden “Jantzen ist ein viel zu heißes Eisen”.

Du spielst mit Deiner Frage noch auf andere Momente der Zusammenarbeit an. Wir haben es ja in der Gründungsphase des Studiengangs Gesundheitswissenschaften versucht, zusammenzuarbeiten und auch auf eine fundamentale Theoriebildung in den Gesundheitswissenschaften hinzuarbeiten. Aber sobald das in die Diskussion gekommen war, je mehr Theorie in die Diskussion kam, desto geringer wurde das Interesse, das wahrzunehmen. Auf der anderen Seite waren die Veranstaltungen dieses zu gründenden Studiengangs vehement besucht, wenn es um Finanzen und Doktorandenstellen ging. Da gab es in den Gesundheitswissenschaften so viele Leute auf einem Haufen, wie ich das an der Universität noch nie gesehen habe, alle mit ihren netten, besonders langen Mänteln und Lederköfferchen und alle mit interessanten empirischen Fragestellungen aber alle mit wenig Interesse an Fragen einer theoretischen Humanwissenschaft.

Was verstehe ich darunter? Einige Bemerkungen noch dazu, damit das nicht so als Nebenprodukt erscheint. In der Physik ist es schon seit dem 19. Jhd. selbstverständlich, nach verallgemeinerten Theorien zu fragen. Von Maxwells Vereinheitlichung von Magnetismus und Elektrizität bis hin

zur Quanten-Elektro-Dynamik reicht die Suche nach einer gemeinsamen Theorie, wie gegenwärtig  nach der Vereinheitlichung von Relativitätstheorie und Quantenmechanik geforscht wird. Ein bisschen hat das natürlich auch in die Biologie und in die Chemie hineingewirkt. Aber in den Humanwissenschaften ist die Suche nach einem solchen Paradigma außerordentlich gering, obwohl es große Vorläufer dafür gibt, auf die man sich berufen könnte. Dies sowohl bezüglich der hochinteressanten, modernen biologischen Systemtheorie-Debatte als auch bezüglich der Psychologie und Psychoanalyse, insbesondere hinsichtlich der modernen Neuropsychoanalyse. Aber auch die psychoanalytische Entwicklungstheorie, die von Piaget, Vygotskij, Leont‘ev u.a. wären zu nennen, die unglaublich viel für die Etablierung einer Humanwissenschaft einzubringen hätten, die etwas anderes ist als nur die Ansammlung empirischen Wissens, die es leisten könnte, einen  Brücke zur philosophischen Anthropologie zu schlagen, die ihrerseits ein rudimentäres Dasein führt und eine moderne Konzeption vom Menschen entwerfen könnte. Das ist etwas, was wir anzubieten haben, was auch immer wieder in persönlichen Diskussionen anerkannt und auf das zurückgegriffen wird, was aber an dieser Universität, so wie sie nach diesem Machtvakuum ist, nicht mehr eingebracht werden kann.

Ich hatte für die “Europäische Enzyklopädie” von Sandkühler neun Artikel verfaßt. In der “kontrastiv” angelegten neuen Enzyklopädie - sprich, in der an den main-stream angepassten - es ist Herrn Sandkühler unbenommen, da zu tun - gibt es keinen Artikel mehr von mir.[xxvii] Es ist interessant, daß jeglicher Bezug auf das Problem Behinderung aus diesem philosophischen Lexikon herausgenommen wurde. Das zeigt, daß das Fach an der Universität vom Inhalt her längst nicht so verankert war, wie wir gedacht haben, sondern, daß es einfach über bestimmte Konstellationen in einem Feld der Macht verankert war, nicht in den großen Zusammenhängen der allgemeinen Politik, sondern durch die Fachdebatte, die ich in einer Reihe von Fächern geführt habe, die Du an anderen Punkten geführt hast. Ich habe natürlich in den Sozialwissenschaften mitdiskutiert, ich habe in einer linken Debatte mitdiskutiert, ich habe in der materialistischen Psychologie mit diskutiert, in der Debatte um die Rezeption von Leont‘ev und die Wundt-Professur hat mir besonderen Rückhalt gegeben. Nachdem das weg war, war auch das symbolische Kapital weg. Die Psychologen, die mir vorher noch beteuert hat, wie gerne sie mich im Studiengang hätten, hatten nichts eiligeres zu tun gehabt, als einen Schwerpunkt Rehabilitationswissenschaften aufzumachen, ohne das Fach Behindertenpädagogik überhaupt zu konsultieren. Die Philosophie, mit der vorher eine gewisse Zusammenarbeit bestand, hat nichts anderes getan, als versucht, sich in der Singer-Debatte auf die herrschende Seite zu schlagen und uns in Grund und Boden zu diskutieren. Nachdem ihnen das nicht gelungen ist, und ihr Vorreiter, Herr Hägselmann, doch mit einer bemerkenswerten Niederlage das Diskussionsfeld in Bremen verlassen hat, habe ich von dort nie wieder etwas gehört. Mit den Neurowissenschaften ist der Kontakt aus irgendwelchen Gründen, ich weiß nicht warum, nicht gelungen, obwohl ich gerade an der jüngsten Entwicklung von Gerhard Roth sehe, daß er anfängt, ähnliche Fragen zu stellen, mit denen wir uns schon sehr, sehr lange beschäftigen. Ich fand sein Interview in »Spektrum der Wissenschaft«[xxviii] sehr aufschlußreich und auch die letzten Arbeiten sehr spannend, in denen sehr stark emotionale Regulationsfunktionen mit ins Spiel kommen. Aber, wie gesagt, das, was auf der Basis dessen, was wir erarbeitet haben. an Zusammenarbeit da sein könnte, gibt es nicht. Die andere Seite ist, dass niemand von einem Fach wie der Behindertenpädagogik erwartet, daß es Serviceleistungen - und zwar wichtige theoretische Serviceleistungen - für die Neurowissenschaften leisten könnte. Warum? Weil die Neurowissenschaften ein hoch geachtetes Fach mit einem hoch geachteten Gegenstand sind und das andere ein Fach, gerade so an der Grenze der Universitätswürdigkeit, mit einem überhaupt nicht geachteten Gegenstand. Das Fach beschäftigt sich mit Ausgeschlossenen und Geächteten. Und wer sich mit Ausgeschlossenen und Geächteten beschäftigt und sie nicht verwaltet, sondern anfängt, ihre Interessen zu vertreten, der wird selber ausgeschlossen und geächtet. Daß ich das nicht phantasiere sei belegt mit einem Editorial, das Martin Hahn für die geistige Behinderung im Jahr 1995 geschrieben hat. Er war Ordinarius für Pädagogik der Geistigbehinderten in Berlin an der Humboldt-Universität. Bei einer Einführungsveranstaltung für die neuen Professorinnen und Professoren beim Berliner Wissenschaftssenator haben sich alle vorgestellt. Auch Martin Hahn stellte sein Fachgebiet vor. Es brach schallendes Gelächter aus und alle waren plötzlich ganz betreten. Es hatte sich gezeigt, Geistigbehindertenpädagogik an der Universität, das gehört sich doch nicht. Das ist sozusagen ein obszöner Witz. Das Unbewußte hat zugeschlagen. Wenn man sich das vor Augen führt, dann sieht man schnell, wie oft diese Denkstrukturen vorherrschen. Ich habe es z.B. in der Diskussion mit dem Rektor unsrer Universität im Fachbereich erlebt. Als ich ihn an die demokratischen Traditionen der Universität Bremen erinnerte, bestätigte er diese. Dann stand ein Sportlerfest zur Verhandlung, an dem Peter Pan und der Käpt’n Hook aufgeführt werden sollten. Er entledigte sich der ganzen vorausgegangenen Debatte, die ihn berührte und ihn ein Stück weit in Beschlag nahm, durch folgende Entwertung: “Dann kann Herr Jantzen ja Käpt’n Hook integrieren”.

Wir wissen, wo wir sind und dass Behinderung nicht anerkannt ist. Wir haben trotzdem Fächer an der Universität, mit denen unter der Hand die Kooperation funktioniert - auch auf Studentenebene; auf einer konkreten Ebene unterdessen ein Stück weit auch mit den Philosophen und ich kann mir vorstellen, daß sich das in den nächsten Jahren verändert. Aber ich denke, ich habe dort keine Bringeschuld, sondern die haben eine Holeschuld.

Georg Feuser

Wolfgang: Studenten! Unsere universitäre Arbeit ist, bei aller Gewichtung der Forschung, dominiert durch die Lehre, d.h. durch den Anspruch auf eine hoch qualifizierte Ausbildung der Studierenden, sei es in bezug auf das Lehramtstudium oder das Diplomstudium. Ich provoziere jetzt. Sind die Studenten heute noch qualifiziert, ein solches Studium aufzunehmen?

 

Wolfgang Jantzen

Wenn ich die Cutting-Points bei dem universitätsinternen Numerus clausus heranziehe, dann hat sich in den letzten Jahren eine gewisse Verschiebung ergeben. Wir haben lange Jahre einen Cutting-Point zwischen 1 und 2 gehabt, heute liegt er irgendwo zwischen 2 und 3, was die Zulassung betrifft. Das verweist auf eine gewisse Verschiebung, die es auch in der Universität selbst gibt, weil andere Fächer z.B. attraktiver sind und die Studierenden vielleicht auch mit besserer Vorbildung in andere Fächer hingehen. Ich will das alles aber nicht überbewerten. Dennoch, ein paar Punkte fallen mir auf und dies schon seit Jahren. Ich weiß nicht, inwieweit das für andere Fächer zutrifft, aber ich kann für unser Fach folgendes sagen: Einerseits ist es positiv, dass wir sehr oft Studenten mit Lebenserfahrungen im Bereich Behinderung bekommen, die sich sehr bewusst entscheiden, das Fach zu studieren. Weil sie über Lebenserfahrungen zu uns kommen, denke ich, sind sie trotzdem nicht besser oder schlechter qualifiziert als alle anderen Studenten auch. Sie entscheiden sich nur an einem bestimmten Punkt über eine Lebenserfahrung, das Fach zu wählen.

Dann fällt mir auf, daß viele Studenten unfähig sind, theoretisch zu denken. Sie sind von den Schulen geradezu sozialisiert, nicht theoretisch zu denken. Sie sind völlig überrascht, was es alles gibt, auch an anerkannten Theorien. Das leisten die Schulen heute nicht einmal dort, wo sie im naturwissenschaftlichen Bereich ausbilden, z.B. im Leistungskurs Biologie. Sie leisten nicht, die Schüler in die aktuelle naturwissenschaftliche und naturphilosophische Debatte einzuführen, oder sie mit populärwissenschaftlichen Zeitschriften wie »Spektrum der Wissenschaft«, das natürlich an der oberen Grenze von Populärwissenschaft liegt, zu befassen, oder ihnen Bücher wie z.B. von Maturana oder Prigogine nahezubringen, die schon seit Jahren auf dem Markt sind und die verschiedenen Fächer bewegen. Das scheint alles an den Schulen vorbeizugehen. Es ist mit immer größerer Mühe notwendig, die Studenten damit vertraut zu machen, weil sie in den Schulen vermutlich jedes Systemdenken ausgetrieben bekommen; auch z.B. ein Buch, was wirklich ein Bestseller auf dem Gebiet der Neurowissenschaften ist, das fast jeder Neurowissenschaftler unterdessen gelesen hat, nämlich Edelmans “Unser Gehirn – ein dynamisches System” ist Studenten kaum beizubringen, weil sie dieser Komplexität nicht gewachsen sind. Gut, die Biologen haben dieses Problem vielleicht nicht in vergleichbarer Weise, weil sie im siebten bis neunten Semester auf anderen Wegen dahin kommen, den empirischen Teil zu verstehen, theoretisch verstehen sie Edelman aber auch nicht. Es ist problematisch, wenn man in einem humanwissenschaftlichen Fach ständig sehr reduzieren muß, weil wir natürlich einen immer größeren Wissenszuwachs in kürzerer Zeit haben, den wir, wenngleich herunterdekliniert an unsere Studenten, so vermitteln müssen, daß sie eine solide, naturwissenschaftliche Allgemeinbildung haben und daß sie in der Lage sind, den Biologisierungen und Objektivierungen von Behinderung zu widerstehen -  und zwar aufgrund von Wissen.

Ein weiteres Problem ist, daß die Universität, so wie sie ist, uns in außerordentliche Schwierigkeiten bringt, Studenten fundiert praktisch auszubilden. Wir haben keinerlei Personalausstattung für eine vernünftige Praxisausbildung. Das ist z.B. für einen Wirtschaft- oder Technikwissenschaftsstudiengang undenkbar. Wir haben keine Anschlüsse, keine Verträge zu regionalen Einrichtungen, abgesehen davon, daß das natürlich durch deren Demokratiestruktur, zu der ich ja schon einiges gesagt habe, sehr schwierig wäre. Aber zumindestens hätte man über die Universität so etwas aufbauen können, denn für den neugegründeten Reha-Wissenschafts-Studiengang ging es ja. Bei den Psychologen war es ja möglich, einem Ordinarius ein Institut mit 70 Leuten zu schaffen. Das wäre auch bei uns gegangen. Bleibt also das große Problem für das Fach, trotz immenser theoretischer Arbeit, die didaktische Vereinfachung so zu leisten, dass es gelingen kann, die Studenten in diesem Fach zu hohen Qualifikationen zu führen. Teils kann das auch am Charakter des Faches liegen. Meine Dauerrede an die Studenten ist, wenn sie sich über die Schwierigkeiten beklagen: Ihr hättet ja was einfacheres studieren können, Physik beispielsweise. Das wäre zur Studentensituation zu sagen. Ich will das aber offenhalten. Andererseits finde ich auch viele engagierte, kluge und reizende Leute, wie selten, aber ich kann nicht umhin, diese völlige Unterqualifikation für ein Studium durch die Schule festzustellen.

 

Georg Feuser

In den Jahren 1987 bis 1990 erschien Dein Hauptwerk: Die “Allgemeine Behindertenpädagogik”. In ihr sehe ich zahlreiche Momente Deiner vorausgegangenen Schriften in einer immensen Konsistenz und hohen Kohärenz vereinigt: Die humanwissenschaftlichen Grundlagen des Faches, aber auch allgemeine und spezielle Fragen aus Theorie und Praxis, Fragen der Therapie eingeschlossen. Welche Funktionen hast Du in Konzeption dieses Werkes mit seiner Schaffung verbunden und welche meinst Du, vermag und soll es heute, ein Jahrzehnt danach, erfüllen?

 

Wolfgang Jantzen

Ich habe beschlossen, dieses Buch zu schreiben, als 1972 Bleidicks “Pädagogik der Behinderten” erschienen ist, ich sie gelesen hatte und gesagt habe: So kann die Darstellung des Fachs nicht stehenbleiben. Die “Theorien zur Heilpädagogik”, die im »Argument« 1973 erschienen sind, waren sozusagen der erste Versuch, das Gelände neu zu sondieren. Und in diesem Sondierungsprozess ist in der Folge das Material entwickelt worden, dass dann in die “Allgemeine Behindertenpädagogik” eingeht. Es ist deshalb für Leute, die sich heute damit beschäftigen, nicht uninteressant, die einen oder anderen Schriften von vorher zu lesen, insbesondere den rein auf eine psychologische Theorie bezogenen Band “Abbild und Tätigkeit”. Auch ist es nicht uninteressant, die Vorlesung, die ich auf dem Wilhelm-Wundt-Lehrstuhl gehalten habe, die eher eine philosophisch-methodologische Vorlesung ist und den psychologischen Materialismus, die Tätigkeitstheorie und die marxistische Anthropologie behandelt, zur Hand zu nehmen. Sie wird als eine außerordentlich lesbare Einführung in das ganze Denkgebäude beurteilt. Kurz, es ist der Versuch, sozusagen eine Enzyklopädie des Fachs zu schreiben, aber nicht als Anhäufung von Wissen, sondern in einer bestimmten Darstellungslogik, für die ich den Marx-Hegelschen Arbeitsbegriff benutzt habe. Das Problem der “Allgemeinen Behindertenpädagogik” ist, Du hast das schon gesagt, die Konsistenz und Kohärenz. Sie ist auch heute noch für viele kaum lesbar. Ich merke das, wenn ich mit Studenten anfange Teile aus dem Buch zu diskutieren. Ich habe ein ganzes Semester mit Studenten über das Kapitel zur basalen Pädagogik diskutiert und wir hätten ein weiteres Semester drüber diskutieren können. Die Kategorien sind sehr dicht und es ist außerordentlich viel Material in diese beiden Bände eingegangen. Von den humanbiologischen Kapiteln will ich erst gar nicht reden. Sich an sie und die Strukturen dieser Kapitel anzunähern, gelingt erst langsam in Lehrveranstaltungen.

Ich sagte schon, mir war es wichtig, das Buch in einer bestimmten Darstellungslogik abzufassen. Vom Inhalt her gesehen hat das Buch natürlich auch sehr, sehr viel verallgemeinerbare Inhalte, aber natürlich auch zeitgenössische Einschränkungen. Beschränkungen gibt es z.B. derart, dass ich Bourdieu noch nicht genug kannte, um das systematisch mitzudenken und auf Wallon bin ich erst sehr viel später gestoßen. Natürlich sind bei soviel Material an der einen oder anderen Stelle auch kleine Denkfehler, die man bei einer Neuauflage korrigieren müsste. Aber das berührt nicht das Grundsätzliche. Abgesehen davon bewertet eine Umfrage an Hochschulen die “Allgemeine Behindertenpädagogik” für die Zukunft des Faches als das wichtigste Werk. Aber was man machen müsste, wäre, dieses Werk noch einmal in die zentralen theoriebildenden Schritte zu übersetzen, die in ihm stecken. Das wäre z.B. der Grundgedanke der Isolation, über den wir schon geredet haben, und das Versehen dieses Isolationsbegriffs mit einer Entwicklungsdimension, was über die Aufnahme des Marx-Hegelschen Arbeitsbegriffes erfolgen könnte, insofern die einfachen Momente der Arbeit, Gegenstand, Mittel und Tätigkeit, natürlich sozialhistorisch kulturell anzueignende sind, um das Bauen des Produkts im Kopf zu ermöglichen. Das ist im Eingangskapitel entwickelt und wird sozusagen als Schlüssel auch festgehalten, um eine neue Lektüre der bisherigen Entwicklungspsychologie zu leisten. Im Entwicklungspsychologie-Kapitel habe ich offensichtlich zu unscharf geschrieben, denn immer wird gesagt: Wolfgang Jantzen hat die Theorie der dominierenden Tätigkeit weiterentwickelt. Das hat er nicht; er hat mit ihr gebrochen. Ich habe sie für eine bestimmte Zeit benutzt und auch versucht, Lücken in ihr zu schließen, habe aber spätestens mit der “Allgemeinen Behindertenpädagogik” erklärt, dass diese Theorie nur Teilaspekte des Entwicklungsprozesses fasst. Sie ist eine berechtigte Theorie, neben anderen, neben der von Piaget, neben der von Spitz und wer genau liest, wird sehen, neben den Ansätzen von Elkonin und Boshowitsch. Die Vygotskij-Arbeit über das Problem der Altersstufen war mir damals noch nicht zugänglich.[xxix] Sie ist erst 1987 erschienen, nachdem der erste Band bereits verlegt war. Es geht darum, hinter diesen Theorien eine gemeinsame und völlig neue, allgemeine Entwicklungspsychologie zu entwickeln. Das Spannende für mich ist, dass sie auch einer Überprüfung durch Wallon standhalten kann. Für mich ist er eine der faszinierendsten Entdeckungen der letzten Jahre. Wallon ist den drei Großen der Psychologie des vergangenen Jahrhunderts, Vygotskij, Piaget und Freud ebenbürtig hinzuzufügen. Grundsätzliche Annahmen der “Allgemeinen Behindertenpädagogik” sind aber nicht zu revidieren. Auch meine Kritik an Piaget stimmt in bestimmten Bereichen grundsätzlich mit der von Wallon überein. Was an verallgemeinernder Entwicklungspsychologie in diesem Werk steckt, wird auch durch die aktuellen entwicklungsneuropsychologischen Forschungen zur Gehirnorganisation im Verlauf der kindlichen Ontogenese unterstrichen. Gut, das herauszuarbeiten und noch einmal zu übersetzten wäre eine eigene Sache.

Insgesamt war ich zu sehr mit dem Material befaßt und habe vielleicht zuwenig an denkbare Missverständnisse gedacht. Sehr schön finde ich nach wie vor das sechste Kapitel im ersten Band, das eine Entwicklungspsychopathologie zugrunde legt, die in vielerlei Hinsicht in eine sehr spannende Diskussion mit der US-amerikanischen Debatte über Entwicklungspsychopathologie eintreten könnte und von dieser sicherlich auch sehr bereichert würde, wenn man die aktuelle Debatte zur Kenntnis nimmt und sich darüber austauscht.[xxx]

Was noch zentral mit dem Isolationsbegriff für eine neue Entwicklungskonzeption, die auf dem Hegel-Marxschen Arbeitsbegriff aufbaut, in Zusammenhang steht, ist das Sinn-Konzept. Ich denke, dass ich das Sinn-Konzept wesentlich über Leont‘ev hinausgedacht habe und zwar aufbauend auf Vygotskij und auf Spinoza, aber verbunden mit ganz neuen Fragen. Ich denke, dass gerade das eine ganz eigene Leistung ist, die völlig neu in das Buch einfließt und die dem Ganzen in konstruktivistischer Hinsicht noch einen ganz anderen subjektwissenschaftlichen Hintergrund gibt. Auch die allgemeine Theorie funktioneller Systeme, die ich im Kapitel 7, das erste Kapitel des zweiten Bandes geführt habe, wäre eine solche Übersetzung wert, weil dies eine sehr zukunftsträchtige Diskussion zu sein scheint. Ich habe sie in der ganz aktuellen Diskussion um Ursprünge der Sprache durch Redko, einen russischen Wissenschaftler, wiedergefunden, der versucht, in der Debatte über die Ursprünge der Sprache von Anochins Theorie aus vorzudringen und eine fundamentale Theorie der Entwicklung der Logik innerhalb der Evolution kybernetisch zu begründen.[xxxi] Dort besteht eine Anschlußfähigkeit und ich glaube, dass ich mit dieser Theorie da sehr weit gekommen bin. Das spannende war für mich, im Neuropsychologie-Kapitel den Anschluss an die im Kapitel 7 entwickelte Theorie zu kriegen und die Neuropsychologie in der Lurijaschen Tradition weiterschreiben zu können. Das sind im Grunde die neuen Sachen, die übersetzt werden müssten.

An einem Teil dieser Übersetzungen arbeite ich. Ich versuche, ein Buch zur Neuropsychologie der geistigen Behinderung zu schreiben. Es sollte eigentlich schon längst fertig sein, aber es hat zwei Klippen. Über die eine haben wir schon geredet: Die Neubestimmung des Leib-Seele-Problems. Die andere Klippe heißt Wallon. Aber die ist inzwischen auch überwunden.

Ich denke, die “Allgemeine Behindertenpädagogik” hat auch eine ganz, ganz hohe Praxisrelevanz, was man erst einmal nicht denkt. Sie hat deshalb eine hohe Praxisrelevanz, weil dieses Buch mit Reflexionswissen ausstattet, wenn seine Aneignung gelingt. Und Reflexionswissen brauche ich in dieser Praxis, weil man in diesem Beruf jedes Technikwissen über Bord werfen muss, was nicht in Reflexionswissen rückwirkend eingebunden werden kann. In der Praxis muss ich Handeln; ich muss irgendetwas machen. Wenn ich anfange zu reflektieren, welche Technik wende ich jetzt an, zerbreche ich den Dialog, zerbreche ich das Anerkenntnis, mit dem ich arbeite und objektiviere den Klienten. Also kann ich meine Fehler nur im Nachhinein über Reflexionswissen bearbeiten und im Vorhinein über Reflexionswissen meine Angst verlieren. Mehr ist nicht möglich. Ich denke, das leistet das Buch. Aber, ich sage es noch mal, das bräuchte noch sehr, sehr, sehr viel Übersetzung.

 Georg Feuser

Ein besonderer Schwerpunkt, aber auch besonderes Verdienst Deines Schaffens ist die “Tätigkeitstheorie“ im Speziellen, im Allgemeinen die Entdeckung, Bearbeitung und Fortschreibung der Arbeiten der “Kulturhistorischen Schule der Sowjetischen Psychologie“, die sich mit den Namen Vygotskij, Lurija, Leont‘ev und Galperin verbinden, um nur einige zu nennen. Sie reichen aber auch von Anochin bis Zaporožeč. Du hast 1987 die “Lurija-Gesellschaft“ gegründet und stehst ihr seit Jahren vor. Wie vernetzt sich aus Deiner Sicht das immens bedeutende gesamte Werk der »Kulturhistorischen Schule« mit Deinem Schaffen, wenn Du das kurz und programmatisch zu benennen hättest?

 

Wolfgang Jantzen

Ich werde es versuchen. Im Grunde geht es einfach eine Reihe vielfältiger »Begegnungen«. Aber nicht nur! Es ist auch harte Arbeit. Ich will die Begegnungen hervorheben. Der Aspekt der Begegnung ist für mich besonders bedeutsam bei Vygotskij. Ich habe mir zunächst über Lurija das Wissen und die Denkweise geholt, die höheren psychischen Funktionen als sozial bestimmt zu erkennen - auch in neuropsychologischer Hinsicht bezüglich der Organisation des Gehirns. Das war außerordentlich schwer, weil ich das weitgehend als Autodidakt leisten musste, allerdings mit guten naturwissenschaftlichen Grundkenntnissen. Was ja nicht so bekannt ist, habe ich im Rahmen meines Psychologiestudiums in Gießen, das in der naturwissenschaftlichen Fakultät angesiedelt war, sehr viel Biowissenschaften hören müssen. Für das Vordiplom waren z.B. Genetik, Physiologie, für das Hauptdiplom auch Psychopathologie verankert; dies verknüpft mit vielen naturwissenschaftlichen Fragen. Als mögliches Promotionsnebenfach habe ich neben Soziologie und Kriminologie zwei Jahre lang systematisch naturwissenschaftliche Anthropologie studiert, ein kleines Anthropologische Praktikum abgeleistet usw. usf. Es war außerordentlich schwer, sich autodidaktisch in diese komplexe Theorie Lurijas einzuarbeiten. Aber das ist im Laufe der Jahre so weit gelungen, dass mir eine Reihe von Leuten nachsagen, dass ich einer derjenigen in Westeuropa sei, der Lurija am besten kennt. Für Leont‘ev und Vygotskij sagen mir das auch einige nach, aber das kann ich nicht beurteilen. Ich weiß nur, dass es eine immense Schwierigkeit war, sich Stück für Stück in diesen Fundus einzuarbeiten. In bezug auf Leont‘ev war dies ein Stück einfacher und bei Vygotskij war es jedes Mal eine Art Begegnung, wenn ich in bestimmten Punkten auf neue Fragen von ihm gestoßen bin. Den letzten Punkt will ich vielleicht zuerst nennen. Du hast ja in der Festschrift für Dich meinen Artikel zur “Zone der nächsten Entwicklung“ gelesen.[xxxii] Ich habe da einige Gedanken entwickelt, die völlig neu sind. Im Semester danach habe ich mit Studenten über Vygotskij gearbeitet und dann in einigen mir bis dahin noch unbekannten Schriften von Vygotskijs entdeckt, dass er der Sache sehr viel enger in der gleichen Richtung auf der Spur war, in der auch ich gedacht hatte. Das ist, was ich so »Begegnungen« nenne.[xxxiii]

Auf der anderen Seite habe ich von Vygotskij außerordentlich viel an Methodologie gelernt. Nicht, dass ich das vielleicht nicht auch anders gelernt hätte, aber wenn man einen solchen Spiegel vorgehalten bekommt, wird manches sehr viel einfacher. Mein Weg zur kulturhistorischen Theorie  war ein eigenständiger Weg. Im Unterschied zu Klaus Holzkamp habe ich nie gedacht, dass Leont‘ev bereits ein »toter Hund« ist, nachdem ich im wesentlichen nur ein Buch von gelesen und dessen Gedanken weiterentwickelt habe. Ich habe bemerkt, dass ich auf einen außerordentlich interessanten und sich weltweit in Ansätzen schon realisierenden Denkzusammenhang stoße, für den alle die Namen stehen, die Du genannt hast und viele mehr. Für jeden dieser Namen, den ich irgendwo gefunden habe, habe ich mich neu interessiert, genau so, wie ich mir bei der Lektüre von Jantsch über die Selbstorganisation des Universums[xxxiv] im Autorenverzeichnis eine Reihe von Anstreichungen gemacht und fast alle abgearbeitet habe. Ich habe Waddington gelesen, Lima de Faria und etliche mehr - und immer im Original. Da Wissenschaft ein sozialer und demokratischer Prozess ist, kann man nicht immer nur aus zweiter Hand lesen. Man muss möglichst schnell in die Primärliteratur hinein und sich mit dem Gedanken eines Autors selbst vertraut machen. Die Kulturhistorische Theorie ist mein Arbeitszusammenhang, ihre Autoren sind die Leute, mit denen ich diskutiere, auch wenn sie nicht mehr leben. Ich habe ja auch mit einigen Lebenden noch Kontakt aufnehmen können, deren Fragen ich mich stelle und nach deren Antworten ich schaue. Ich habe aber auch im anglo-amerikanischen Bereich viel Theorie gelesen und versuche jetzt, meine Französischkenntnisse zu aktivieren, um mich grundsätzlich mit Wallon auseinanderzusetzen. Ich suche einfach Leute, die an den gleichen Problemen interessiert sind und ich finde sie in der aktuellen Gegenwart häufig nicht - siehe unsere Diskussion über die Bremer Universität - dann suche ich sie mir in der Literatur. Dort gibt es genug. Ich denke, ich vertrete die Kulturhistorische Schule, ich bin Teil von ihr, habe darin eine bestimme Position und hoffe, dass ich einige Fragen weiterentwickeln und einige bereichern konnte. Aber ich lebe natürlich auch von dem, was andere schon gemacht haben und zwar in einem nicht ausgrenzenden Zusammenhang. Nichts wäre für mich furchtbarer, als eine eigene Schule zu begründen. Das klingt mir fast schon nach einer eigenen Sekte; da ist mir das Beispiel der Kritischen Psychologie ein so schlechtes Beispiel, dass ich diesen Weg mit Sicherheit nicht betreten möchte.

 

Georg Feuser

Könnte aber, da möchte ich gerne noch einmal einhaken, dieser Grundsatz nicht auch eine Kehrseite haben, was eine Perspektive über die reale Existenz von uns selbst hinaus bedeutet. Wissenschaftlicher Nachwuchs zum Beispiel .....

 

Wolfgang Jantzen

Ich habe ja nicht die Mittel, auf den wissenschaftlichen Nachwuchs durch irgendwelche Promotionsstipendien oder sonst etwas Einfluss zu nehmen. Nur durch die Qualität der Arbeiten kommen die Stipendiaten bei irgendwelchen großen Stiftungen unter. Ich habe eine Möglichkeit auf den wissenschaftlichen Nachwuchs Einfluss zu nehmen, indem das, was wir denken, allgemeines Denken wird - also vielen Menschen zugänglich wird. Das betrifft immer wieder Studenten, aber auch Mitarbeiter in Einrichtungen und ich versuche auch immer wieder, wobei man natürlich genau abstimmen muss, was man leisten kann und was nicht, auf dieser Ebene wissenschaftliche Diskussionen zu initiieren. So habe ich die Einrichtung Lilienthal drei Jahre unterstützt und dies auch immer praxisbezogen; ich gab aber auch einen sehr starken Theorie-Input oder, besser gesagt, ich fundierte den Aufbau eines Reflexionshintergrunds. Als ich damals, Anfang der 80er Jahre, die Spastikerhilfe Bremen beraten habe, war das Gleiche. Es gilt, die Leute vor Ort sozusagen zu kompetenten Denkern und Denkerinnen ihrer eigenen Situation auszubilden und das ist der einzige Weg, wie diese Theorie Fuß fassen und überleben wird. Daher auch mein tiefes Misstrauen gegen alle Prozesse von oben, diese Theorie zusammenzuführen wie das am Beispiel der Internationalen Tätigkeitstheorie-Vereinigung[xxxv] deutlich wird. Was nicht von unten her steht, fällt auseinander und wird auch keine Tiefe bekommen. Wenn nicht die in der Praxis zu lösenden harten Fragen im Vordergrund stehen, bleiben Diskussionen im wissenschaftlichen Feld oft geprägt von der wissenschaftlichen Eitelkeit. Auf der anderen Seite, das weißt Du auch, habe ich mich nie so stark in die Praxis eingeklinkt wie Du, weil ich es außerordentlich wichtig fand, auch diesen wissenschaftspolitischen Bereich und die Theorie zu entwickeln und präsent zu machen. Deshalb habe ich auch viele Vortragsverpflichtungen angenommen, viel geschrieben und mache das immer noch. Eine Theorie dieser Differenziertheit, die lässt sich nicht mit wenigen Arbeiten verankern, das geschieht genauso wie beim Sprachlernen - im wesentlichen durch »Berieselung«.

 

Georg Feuser

Eines Deiner Werke nach der “Allgemeinen Behindertenpädagogik“ trägt den Titel: “Am Anfang war der Sinn“[xxxvi]. Das weckt Assoziationen an die Faust‘schen Reflexionen - an das “Wort“, die “Kraft“, die “Tat“. Die einzelnen Beiträge spiegeln zentrale Aspekte Deines philosophischen Arbeitens und Denkens wieder. Du forderst auf, Freud neu marxistisch zu lesen und beziehst Dich auf Spinozas Philosophie, was im Gespräch schon angeklungen ist. Von ihr aus finde ich in Deinen Arbeiten immer wieder weite Bögen bis zur Gegenwart spannend. Ist es die Suche nach einer Gegenkraft? oder ist es vielleicht in die Faust‘schen Worte zu fassen: “O glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen“?[xxxvii]

 

Wolfgang Jantzen

Die Suche nach dem Sinn, das ist ein Thema, das ich schon vor dem großen Zusammenbruch des Sozialismus zu bearbeiten begonnen habe. Es ist schon im Band I der Allgemeinen Behindertenpädagogik, der 1985 und 1986 geschrieben wurde und 1987 erschienen ist, präsent. Es ist in meinem Vortrag, den ich auf der Psychologietagung in Danzig 1986 gehalten habe, der auch in den Newsletters for Activity Theory[xxxviii] ins Englische übersetzt wurde, mit enthalten und es ist in der ganzen Abgrenzung des Arbeitskreises Tätigkeitstheorie von der »Kritischen Psychologie« von Anfang an mit enthalten. Mich hat die Frage, von Leont‘ev aufgeworfen, was eigentlich Sinn ist, nachdem ich angefangen habe, das zu rekonstruieren, sehr interessiert. Damit hat sich sehr schnell die Frage nach der psychischen und psychologischen Realität dessen verbunden, was die Leute “Gott“ nennen oder irgendeinen Ersatzgott oder sonst etwas. Was sind also die überindividuellen, massenpsychologischen Anrufungsstrukturen aber auch die inhaltlichen Strukturen, die Sinn organisieren? Das ist nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus eine noch spannendere und dringendere Frage geworden als vorher. Den Band, den Du nennst, den habe ich eigentlich zusammengestellt, um einen ersten Versuch zu unternehmen, auf die Singer-Debatte eine systematische Antwort zu geben. Gleichzeitig habe ich den Titel “Das Ganze muss verändert werden“ publiziert und mit diesem Band angedeutet, was, materialistisch gedacht, die philosophischen, anthropologischen, ontologischen u.a. Voraussetzungen sind, die Sinnfrage zu behandeln. Das reicht ja von unserer gemeinsamen Arbeit “Die Entstehung des Sinns in der Weltgeschichte“ bis hin zu Untersuchungen zum Verhältnis Spinoza und Albert Schweitzer u.a.m. und es beinhaltet eine Spinozanische Antwort auf die auch bei Leont‘ev - zumindest in den Anfängen - noch cartesianische Anlage der Naturgeschichte des Psychischen. In den Anfängen geht Leont‘ev von der “einfachen Reizbarkeit” aus, also von dem cartesianischen Maschinenmodell, und das ist nicht haltbar. Wenn Leben existiert und man es nicht mechanisch denken will, muss von Anfang an die Dimension des Sinns mit enthalten sein, also die Möglichkeit von Leben z.B., sich in Situationen zwischen, sagen wir es ganz elementar, Bleiben und Flüchten zu entscheiden. Eine Nahrung zu suchen kostet Energie, aber am Ort zu bleiben kann so viel Energie verbrauchen, dass man keine Nahrung mehr suchen kann. Also müssen im Leben von Anfang an, wenn es selbstorganisierte Prozesse sind, vermittelnde Mechanismen als Systemzeit eingebaut sein, deren Genesis wir ja gemeinsam, mit dem Sinnbegriff unterlegt, untersucht haben. Wenn man das weiter verfolgt, dann entsteht Sinn durch Bestätigung, durch zeitliche Konstruktionen, durch Ist-Konstruktionen, die in der Welt vorzufinden sind oder, wie René Spitz das sagte, durch reziproke Bestätigung. Dann ist also der Gottesbegriff auch nichts anderes als die Abstraktion von reziproken Bestätigungen, die wir in Bindungsprozessen erhalten, in Anerkennungsprozessen - Hegel spricht von Anerkennung der Liebe, in der Ehre, im Absoluten - die wir nur in ein fiktives Jenseits verlegt haben. Nun zeigt uns aber die gesamte Debatte um die Moderne, dass sich damit auseinanderzusetzen eine der zentralen Fragen unseres Faches ist, denn unser Fach ist vielfältig in herrschende Sinnbildungsstrukturen und die Anbetung herrschender Sinnbildungsstrukturen eingebunden und im Glauben, Gutes zu tun gegenüber den Oberen, werden gleichzeitig die Unteren mit Füßen getreten. Das ganze Problem paternalistischer Strukturen wäre hier anzuführen. Wer in der Behindertenpädagogik arbeitet, hatte ich vorhin gesagt, doppelt Erfahrungen, d. h., damit er als Pädagoge die ihm Unterworfenen freundlich behandelt, verlangt er Liebe im Tausch. Aber wenn die Unterworfenen nicht Liebe geben, sondern protestieren, dann werden sie kriminalisiert und ihr Verhalten als Provokation umgedeutet. Das ist der Kern, weshalb das so spannend ist. Und Ausgangspunkt, diese Frage noch einmal aufzugreifen war eigentlich die Singer-Debatte, die ich als eine viel ernsthaftere Herausforderung wahrgenommen habe, als viele andere. Und dass sie dies war, zeigt sich heute sehr deutlich. Ich habe also, obwohl ich zu der Zeit schon relativ gut philosophisch gebildet war, jahrelang meine Philosophiekenntnisse systematisch aufgebessert. Vieles danke ich meinem Freund Siegfried Bönisch in Leipzig, dort abgewickelter stellvertretender Direktor der Sektion Philosophie; dialektischer Materialismus war sein Schwerpunkt. Ich habe durch Siegfried Bönisch sehr vieles von Kant verstanden, was mir sonst nicht so schnell zugänglich gewesen wäre, weil mir das Kantsche Denken sehr fremd ist. Ich denke, als Autodidakt inzwischen so in die Philosophie eingearbeitet zu sein, dass ich zu zentralen Fragen etwas sagen kann. Und das ist einfach der Versuch, bestimmte Fragen zur Sinnproblematik als zentrales Problem dieser Zeit zu bündeln, weil ich denke, dass der Grund der Ethik im sinnvollen Sein liegt. Sobald der Sinn im Sein verloren geht, geht die Ethik verloren. Und das ist zu begründen und daraus eine Gegenkraft zu entwickeln. Ich erinnere Dich an die Schlusspassagen in Adornos “Negativer Dialektik“. Sie nimmt ja – ausgehend von Auschwitz als Bezugspunkt und der Metapher des Hotelbesitzers Adam, der die Ratten totschlägt, nach dessen Bild sich das Kind die Welt bildet – im Schlußteil eine völlige Destruktion der Metaphysik vor, bis er zur Anthropologie kommt, dazu, dass das Bedürfnis nach Denken will, daß gedacht wird. Und dieses Denken mündet in der Auflehnung gegen Gewalt und Unterdrückung. Das Bedürfnis nach Denken, dass daß das Denken will, daß gedacht wird, begründet gleichzeitig das Bedürfnis human zu denken und das ist die Pforte, durch die die Metaphysik- jetzt aber strikt immanent und nicht mehr transzendent gedacht - wieder eintritt und wo Adorno von der Solidarität mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes spricht. Das ist hochinteressant, weil bei Lévinas die Anerkennung des Antlitzes des Anderen der einzige Punkt ist, wo Gott die Welt betritt, bei Buber ist es der Dialog und bei Benjamin ist die Gegenwart die Pforte, durch die Gott die Welt betritt. Eine hoch spannende Sache. Wenn ich jetzt Gott nicht mehr verdingliche, sondern als ein Resultat der Naturgeschichte verstehe, als die Summe der liebenden Beziehungen der Menschen untereinander, so Sölle in ihrer atheistischen Interpretation, - die wiederum aus der Summe der liebenden Beziehungen in der Naturgeschichte entstanden sind - dann haben wir nicht nur den Auftrag, die Schöpfung zu erhalten, sondern auch Gott zu erhalten, nicht den da oben, sondern Gott als eine Art von Beziehungen der Menschen untereinander, die von Achtung, von Anerkennung, vom Verzicht auf Gewalt usw. geprägt sind. Um das zusammenzufassen, ist dann Gott eine soziale Konstruktion, die bisher von der Menschheit in ihrer Geschichte geschaffen wurde und bis heute geschaffen wird. Und es kann sehr wohl sein, dass diese Konstruktion, jedenfalls im Sinne des liebenden Gottes, nicht des allmächtigen Gottes, der identisch ist mit der Naturgeschichte, wenn die heute beobachtbaren Prozess so fortschreiten, dass dieser liebende Gott vernichtet wird, spurlos aus der Welt verschwindet, weil er eine Schöpfung der Menschen ist in der Summe ihrer Beziehungen. Wenn ich das im Kopf habe, muss ich eine Art und Weise des Handelns in der Gegenwart praktizieren, das diese Beziehung nicht außer Kraft setzt, um sie bekommen zu können. D.h., ich muss mich, das ist die Übereinstimmung mit Lévinas und Buber, wie Bourdieu sagt, nach der Regel des “do ut des” so verhalten, dass ich gebe, was ich bekommen will. Ich muss also, so hat es der junge Marx auch schon gesagt, Liebe geben um Liebe zu bekommen. Ich muss Anerkennung geben, um Anerkennung zu bekommen. Und wenn ich Frieden haben will, muss ich Frieden geben. Das ist die Grundposition, die sich daraus für die Ethik entwickelt. Und das ist schon die Postulierung einer Gegenkraft. Ob das was mit glücklich zu tun hat, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen - ich weiß es nicht. Wissen macht nicht immer glücklich.

 

Georg Feuser

“Die Zeit ist aus den Fugen“ ist der Titel eines Buches von Dir von 1998[xxxix]. Es erinnert mich in gleicher Weise an den Goetheschen Faust. Nun aber an Worte des Mephistopheles, der sich selbst als den Geist bezeichnet “der stets verneint, und das mit Recht, denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht; drum besser wär‘s, dass nichts entstünde ....“[xl] Du befaßt Dich darin erneut mit Perspektiven der Behindertenpädagogik auf dem Hintergrund so zentraler Begriffe, wie »Subjektivität«, »Vernunft«, »Gerechtigkeit« und mit Fragen des Lebensrechts für behinderte Menschen, mit dem Nachweis gegen die Meinungen der Euthanasie befürwortenden Philosophien und Philosophen, dass ein Mensch mit Down-Syndrom eine Person ist. Kurz: Der Kampf richtet sich gegen die Moderne von Lebensunwert und “Euthanasie“ und gegen eine im Kleide scheinbar demokratisch kontrollierter Gentechnologie daher kommenden Bevölkerungspolitik auf eugenischer Ebene, die - wie im Faschismus - die sog. “Ausmerze“ als minderwertig erachteten Leben mit der “Aufartung“ eines Menschengeschlechts verbindet, um lang gehegte “Träume der Genetik“ zu realisieren. Du beziehst Dich auf eine verstehende Diagnostik, auf die Enthospitalisierung, auf das Recht auf Leben und Bildung - Momente, die in einer abendländisch christlich fundierten menschlichen Kultur eine Selbstverständnis sein sollten, aus meiner Sicht heute aber fundamental bedroht sind. Geraten wir - und ist das unser Ausblick auf die eigene letzte Lebensspanne - im Sumpf neuer Mythen in eine grenzenlose ‘Zerstörung der Vernunft‘?

 

Wolfgang Jantzen

Ich weiß es natürlich nicht, Georg, wo wir hin geraten. Und ich werde mich hüten, das eine oder andere als fixe Struktur anzunehmen. Ich habe vorhin schon gesagt, mit Jonas kann ich mir, muß ich mir das Schlechteste als Möglichkeit vorstellen. Das Buch “Die Zeit ist aus den Fugen“ enthält ein entsprechendes Szenario, einen Vortrag, den ich über Perspektiven der Behindertenpädagogik nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus gehalten habe und davon ausgegangen bin, dass das, was auf dieser Welt geschieht, nur noch mit Anstand zu Ende gebracht werden kann, aber nicht mehr zu ändern ist, der “point of no return” überschritten ist. Aber das ändert nichts daran, das was zu tun ist, mit Anstand zu tun und durchzudenken.

Was ist eigentlich die Grundhaltung dieses Buches? Das ist ja nicht Goethe, mit dem ich diesmal beginne, sondern Shakespeare mit Hamlet: “Die Zeit ist aus den Fugen, Schmach und Gram, dass ich zur Welt sie einzurichten kam“. Es ist also, wie das Negri in der Spinoza-Rezeption sagt, “die Aneignung der Krise“, das mir Zueigenmachen der Krise, dass es nämlich so sein könnte, wie ich es in diesem anderen Beitrag geschrieben habe, dass der “point of no return “ schon vorbei sein könnte. Und es ist sehr heilsam sich das anzueignen, wie es überhaupt sehr heilsam ist, sich Krisen anzueignen und nicht zu flüchten. Ich hatte vorhin schon von einer Krise gesprochen, die ich mir angeeignet habe. Das war jene mit dem Schüler, den ich geschlagen habe. Eine zweite Krise, die mich sehr lange beschäftigt hat, war die Geschichte meiner Eltern, die immer so im Halbdunkeln lag. Als ich 1975 einen Vortrag zum 30. Jahrestag der Befreiung vom Hitler-Faschismus für die Marburger Studenten ausarbeitete, stieß ich in einem Buch über das KZ Ravensbrück auf den Namen meiner Mutter, die bis kurz vor meiner Geburt Lagerärztin im Ravensbrück gewesen ist und mindestes am Tod einer Frau Mitschuld hat. Ich habe, so lange meine Mutter noch gelebt hat, davon nie öffentlich gesprochen, weil sich das nicht gehört, weil Lebende meinen Schutz verdienen, die zum eigenen Umfeld und zur Familie gehören. Lebende als Träger von Ideologien, als Institutionen, habe ich natürlich angegriffen, wie z.B. Stutte. Aber ich glaube, in dem Aufsatz zu Stutte habe ich in den Schlussbemerkungen 1993 in der Zeitschrift für Heilpädagogik[xli] auch gesagt, Stutte ist nicht besser und schlechter als meine Mutter, er ist ein Kind seiner Zeit. Ich hätte selber auch so werden können, hätte ich in dieser Zeit gelebt. Das ist auch ein Resultat der Aneignung dieser Krise, die mich sehr lange Jahre emotional verfolgt, aber auch dazu geführt hat, dass ich mich systematisch mit der Geschichte der Opfer beschäftigt, mich früh mit den Forschungen zu den Folgen von KZ-Haft auseinandergesetzt habe. Und, wie das meine Eigenart ist, alles gelesen habe, was ich in die Hände bekommen habe. Ich habe mehrfach für Sinti in Wiedergutmachungsfragen gegutachtet und in einigen Fällen auch Erfolg gehabt, so dass die betroffenen Personen eine größere finanzielle Entschädigung bekommen haben. Das war für mich aus dieser Geschichte heraus sehr wichtig. Irgendwann konnte ich mir das aneignen und wieder ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern bekommen. Eine dritte Krise war natürlich der Zusammenbruch des Realsozialismus, was sonst? Es galt, nicht nur sich dieses epochale Ereignis anzueignen und nicht zu flüchten, sondern auch nach den eigenen Fehlwahrnehmungen zu fragen, alles Denken noch einmal von vorne zu überprüfen. Nicht ohne Grund bin ich bis zu Spinoza zurückgegangen und habe alles noch einmal überprüfend gedacht. Das war nicht nur die Singer-Debatte, sondern auch diese große Krise. Und von den Krisen, die im privaten Bereich im persönlichen Leben dazukommen, gar nicht zu reden, das ist nicht für die Öffentlichkeit. Kurz: Sich die Krise aneignen, ist ein wesentlicher Punkt, auch, um mit sonst möglichen blinden Flecken prophylaktisch umzugehen, es bleiben immer noch genug davon. Im Prinzip ist dieses Buch auch der Versuch, sich diese Krise auf verschiedenen Ebenen anzueignen und Perspektiven zu erörtern.

Du fragst nach dem Zerfall der Vernunft, nach der Zerstörung der Vernunft. Was könnte Vernunft sein? Ich habe jetzt angefangen, mich intensiver mit Hegel auseinanderzusetzen, was bei einem so gewaltigen Autor, von kleineren, direkten Anläufen abgesehen, erst einmal über gute Sekundärliteratur erfolgte, um mir Wege zeigen zu lassen. Ich habe jetzt gerade von Ludwig Siep “Der Weg der Phänomenologie“ gelesen, also die Rekonstruktion von Hegels “Phänomenologie des Geistes“. Eine sehr interessante Denkbewegung ist die der Bestimmung des Ich, das zunächst am Gegenstand sich herausbildet, das den Gegenstand negiert und so zur Bestimmung seiner selbst kommt und schließlich – in doppelter Negation - dann zur Gemeinsamkeit der Bestimmung seiner selbst und des Gegenstandes kommt, sich also als Ich in der Welt bestimmt. D. h., das isolierte Ich, das Kant gesetzt hat, entsteht nur am Gegenstand. Das würde so auch mit Bourdieu und  seiner Habitus-Theorie übereinstimmen. Und jetzt macht Hegel etwas sehr Interessantes. Er nimmt nämlich die Summe dieser Ich-Bestimmungen am Gegenstand als kollektive Struktur, die nennt er Weltgeist, oder Kultur so würden wir heute sagen. Diese ist oberhalb der Individuen angeordnet, ist die Konstruktion aller Individuen und konstruiert die Individuen. Das ist etwas Ähnliches wie bei Sève das Verhältnis von Gesellschaft und Persönlichkeit[xlii]. Und das ist wiederum interessant, weil es unterdessen Theorieelemente gibt, die zeigen, wie solche Konstruktionen stattfinden. Für den Gottesbegriff habe ich das schon angedeutet. Feuerbach hat Gott verweltlicht und in die Summe der guten Beziehungen hineingelegt, aber gleichzeitig ist Gott mehr als die Summe der einzelnen guten Beziehungen, das Universum der gehabten guten Beziehung. Das lässt sich sehr schön mit Vernadskijs Theorie der Biosphäre darstellen, aus der heraus die Noosphäre, die Sphäre der Menschen entsteht[xliii], die durch ihre Arbeit gleichzeitig in die Biosphäre und Geosphäre zurückwirken. Und diese Noosphäre, so der estnische Linguist Lotman, kann man auch als in Semiosphären organisiert denken, also in Zeichen gebrauchenden Systemen, innerhalb derer Bedeutung konstruiert wird, innerhalb derer Vernunft  präsent ist[xliv]. Das erinnert übrigens sehr an Wittgensteins Theorie der Sprache und der Vernunft. Vernunft sind also Konstruktionen in sozialen Räumen, die auf das Allgemeine zielen, nämlich auf die Vermittlung des Menschen mit dem Menschen. Und Vernunft ist mehr als Rationalität. Vernunft ist immer ein Stück weit sinngeladen, sinnbegleitet, auch das macht Wittgenstein sehr deutlich, denn für ihn sind ja Logik, Mathematik und Grammatik sinnlos, aber nicht unsinnig. Sie sind ein System von Wegen in einem eigenen kulturellen System der Sprache und ermöglichen im inneren Prozess, aber auch im äußeren Prozess, bestimmte Wege zu gehen an Orte des Sinns. Aber die Orte des Sinns sind nur aufzeigbar und nicht beschreibbar. Da sehe ich viele Berührungspunkte. “Die Zeit ist aus den Fugen“ versucht, das genau zu zeigen, ohne sich jetzt noch an einen fixen Punkt zu klammern, an einen außerhalb der Zeit stehenden Gott, an eine außerhalb der Zeit stehende Kultur, sondern versucht, den Bezugspunkt des eigenen Selbst strikt anzunehmen, aber nicht wie die Postmoderne, die versucht, die Vermittlung Subjekt und Welt zu negieren. Es ist, als ob die Postmoderne in der Abwendung vom Gegenstand die Hegelsche Figur der einfachen Negation realisiert, nur das Subjekt zu sehen. Aber jetzt ist die Welt wieder anzuerkennen und darüber hinaus der Prozess der überindividuellen Subjektivität und Weltkonstruktion, was Hegel Weltgeist nannte, also dass ich die Welt konstruiere und die Welt mich. In diesem Bereich ist das Problem der Vernunft anzusiedeln. Ich weiß nicht, ob sie grenzenlos zerstört wird, das reiht sich in all die Fragen ein, die wir besprochen haben. Sie wird zerstört und in anderen Punkten entsteht sie neu. Einige abschließende Bemerkungen: Was mir fundamental zu sein scheint in einem solchem Prozess ist, die eigenen Vorgaben zu leisten, dass Vernunft entstehen kann. Und diese können, weil sie dem Wesen der Vernunft entsprechen, nicht gewaltförmig sein. Natürlich wäre es Unsinn, Gewalt in jeder Situation abzuschwören. Darauf macht Hannah Arendt und machen auch andere Theoretiker aufmerksam. Aber der Einsatz muss minimiert werden und er darf denjenigen, der sie benutzen muss, nicht korrumpieren und in diesen Sog hineinbringen. In der Vernunftfalle, in die ich hineingebracht werde, ist es legitim, aggressiv zu sein, sagt Hannah Arendt, oder Gewalt anzuwenden, mich zu wehren.[xlv]

Um den Anerkennungsraum zu gestalten, denke ich, ist es vielleicht nützlich, sich abschließend noch einmal mit dem Freiheitsbegriff auseinanderzusetzen, an dem ich das besonders schön deutlich machen kann. Und zwar möchte ich anfangen mit der Passage, die dieses Verhältnis am besten beschreibt, der Passage des Kommunistischen Manifests. Das ist für den entwickelten Kommunismus geschrieben, aber ich denke, das ist nie das Ergebnis, sondern es muss Voraussetzung sein, dass die Freiheit eines jeden die Bedingung der Freiheit aller ist. Wenn die Freiheit eines jeden, die Bedingung der Freiheit aller ist, so ist die Freiheit des je anderen, die Bedingung meiner eigenen Freiheit, die Bedingung meiner Existenz. Wenn aber gleichzeitig Freiheit bedeutet, “Nein“ zur Macht zu sagen, so Octavio Paz, den mexikanische Nobelpreisträger, so bedeutet dies, wenn ich das konsequent machen möchte, die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit von den Ohnmächtigen her zu bestimmen und nicht von den Mächtigen her. Die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit von den Ohnmächtigen her zu bestimmen, das haben wir beispielsweise mit unserer rehistorisierenden Diagnostik geleistet. Meinesgleichen sind die, die weniger Macht haben als ich, vor denen ich mich zu verantworten habe. An anderen Stellen haben das andere, Zigmunt Bauman beispielsweise, gedacht und dann erst macht das Sinn, was Rosa Luxemburg sagt, nämlich Freiheit ist auch die Freiheit des Andersdenkenden. Ja, selbstverständlich. Aber z.B. nicht Singer als soziale Institution, der Euthanasie durchsetzen will, um seine Universität oder sonstwen zur Aufwertung zu bringen, sondern die Freiheit von Singer als Mensch. So sehr ich gegen Singer bin und in jeder Debatte gegen ihn oder auch gegen Hegselmann halten würde, finde ich es unsäglich und in keiner Weise verantwortbar, dass da Familien bedroht werden. Das ist genau das, was der anderen Seite als Faschismus vorgeworfen wird, das hier als Terrorismus praktiziert wird, um dies deutlich zu machen. Noch ein letztes zum Freiheitsbegriff. Die Freiheit erreiche ich nur dann, so Lévinas, wenn ich mich zur »Geisel« des anderen mache, aber genau wissend, dass dieses heißt, das durchzusetzen, was er möchte, und daß mich dieses Anliegen aber auch in den Wohltätigkeitsterrorismus führen könnte. Das ist eine Gratwanderung, ein Balanceweg, in dem ich immer wieder meine Freiheit bewahren muss, indem ich die Freiheit des anderen bewahre, das wäre mir sehr wichtig. Insofern, wenn ich das alles nehme, gibt es keinen Grund zur Verzweiflung. Das Leben findet im hier und jetzt statt und die Gegenwart muss theoretisch geöffnet werden, indem Erinnerungsarbeit stattfindet und die Zukunft das bleibt, was sie ist, Zukunft, mögliche Zukunft, deren schlechtestmögliche Variante ich emotional gegenbesetze, damit ich in der Gegenwart das bestmöglichste tun kann.

 

Georg Feuser

Wolfgang, ich sehe uns am Ende dieses Interviews angekommen und danke Dir.

 



[i]     Siehe Weser-Kurier vom 12./13.04.2001, Nr. 87, S. 1, der sich auf eine Umfrage des Allensbach-Instituts bezieht, die am 11.04.2001 vorgestellt wurde. Es wird auch referiert, daß 70% der 2094 Befragten über 16 Jahren finden, dass Sterbehilfe für schwer kranke Menschen ein guter Weg ist, um sie nicht so lange leiden zu lassen.

[ii]     Epstein, M.N.: Tempozid. Prolog zu einer Auferstehung der Zeit. Lettre International, H. 47 (1999) 4, 65-72

[iii]     Huntington, S.P.: The clash of civilisations? Foreign affairs 72 (1993) 2, 22-49

[iv]     Kuckhermann, R.; Wigger-Kösters, Annegret: Die Waren laufen nicht allein zum Markt. Köln 1985

[v]     Anstötz, C.: Ethik und Behinderung. Berlin 1990

[vi]     Hauschildt, J. Diagnosegeleitete Förderung. Sonderpädagogik 28 (1998) 2, 84-92

[vii]    Jantzen, W.: Postmoderne Ethik und Embryonenschutz. Forum Wissenschaft (2001) 4, i.Dr.

[viii]    Jantzen, W.: Das Ganze muss verändert werden. Zum Verhältnis von Behinderung, Ethik und Gewalt. Berlin 1993

[ix]     Jantzen, W., Lanwer-Koppelin, W. und Schulz, Kristina (Hrsg.): Qualitätssicherung und Deinstitutionalisierung.  Berlin 1999

[x]     Dörner, K.; Spielmann, U. (Hrsg.): Geistige Behinderung, Humangenetik und Ethik. Der Würzburg-Eisinger Fall. Eisingen 2001

[xi]     Bäcker, G. u.a.: Sozialpolitik und soziale Lage in der BRD. Bd. 1 und 2. Köln 1989²; Danckwerts, D.: Grundriß einer Soziologie sozialer Arbeit und Erziehung. Weinheim 1981²

[xii]     Negri, A.: Die wilde Anomalie. Spinozas Theorie einer freien Gesellschaft. Berlin 1982

[xiii]    “Tittytainment” für die globalisierten Massen sieht Brzezinski als Kombination von Ernährung (“titts” = Brüste)  und Unterhaltung  (“entertainment); vgl. Martin, H.P.; Schumann, H.: Die Globalisierungsfalle. Reinbek 1997, S. 13

[xiv]    Basaglia, F. Die Institutionen der Gewalt. In: Basaglia, F. (Hrsg.): Die negierte Institution oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen. Frankfurt/M. 1978, 122-161

[xv]    Haggard, E.A.: Isolation and Personality. In: P. Worchel and D. Byrne (Eds.): Personality Change. New York 1964, 433-469

[xvi]    Siehe: Bleidick, U.: Metatheoretische Überlegungen zum Begriff der Behinderung. In: Z. Heilpäd. 27(1976)7, 408-415 - Jantzen, W.: Zur begrifflichen Fassung von Behinderung aus der Sicht des historischen und dialektischen Materialismus. In: Z. Heilpäd. 27(1976)7, 428-436 sowie Jantzen, W. : Materialistische Erkenntnistheorie, Behindertenpädagogik und Didaktik. Demokratische Erziehung 2 (1976)1, 15-29

[xvii]    Siehe Feuser, G.: Zum Verhältnis von Sonder- und Integrationspädagogik - eine Paradigmendiskussion? In: Albrecht, F., Hinz, A u. Moser, Vera (Hrsg.): Perspektiven der Sonderpädagogik. Neuwied/Kriftel/Berlin 2000

[xviii]    vgl. Hanesch, W. u.a.: Armut und Ungleichheit in Deutschland. Reinbek 200, 331-290

[xix]    Jantzen, W.; Theorien zur Heilpädagogik, Das Argument Nr. 80 (1973) 152-169

[xx]    Toulmin, S. Voraussicht und Verstehen. Frankfurt/M. 1981

[xxi]    vgl.  Kuhn, T.S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/M. 1967 sowie Fleck, L.: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Frankfurt/M. 1994³

[xxii]    Leontyev, A.N.: Notes on consciousness. Activity Theory 3 u.4  (1989) I-VIII, 5 u.6 (1990) I-VIII

[xxiii]    Wygotski, L.S.: Konkrete Psychologie des Menschen. In: M. Holodynski und W. Jantzen: Persönlicher Sinn als gesellschaftliches Problem. Studien zur Tätigkeitstheorie V. Bielefeld 1989

[xxiv]   Freeman, W.J.: Societies of brains. Hillsdale/N.J. 1995

[xxv]    Benjamin, W.: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Frankfurt/M.  1965.

[xxvi]   Jantzen, W.: Psychologischer Materialismus, Tätigkeitstheorie, marxistische Anthropologie. Berlin 1991

[xxvii] Sandkühler, H.J.: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hamburg 1990, 4 Bde. sowie Sandkühler, H.J.: Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 1999, 2 Bde.

[xxviii]   Interview: Hirn und KI-Forschung. Mit Gerhard Roth und Gerhard Vollmer. Spektrum der Wissenschaft (2000), 10, 72-75

[xxix]   Wygotski, L.S.: Das Problem der Altersstufen. In: ders.: Ausgewählte Schriften Bd. 2. Köln 1987, 53-90

[xxx]    vgl. die Zeitschrift “Development and Psychopathology”

[xxxi]  verschiedene Arbeiten von Redko sind zugänglich unter folgender URL: http://www.keldysh.ru/BioCyber/

[xxxii]   Jantzen, W.: Schwerste Beeinträchtigung und die Zone der nächsten Entwicklung. In:

Rödler, P. ; Berger, E.; Jantzen, W. (Hrsg.): Es gibt keinen Rest! – Basale Pädagogik für Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen. Neuwied 2000, 102-126

[xxxiii]   Aus dieser Diskussion ist die folgende Arbeit entstanden: Jantzen, W.: Vygotskij und das Problem der elementaren Einheit der psychischen Prozesse. In: W. Jantzen (Hrsg.): Jeder Mensch kann lernen – Perspektiven einer kulturhistorischen (Behinderten-)Pädagogik. Neuwied 2001, 221-243

[xxxiv]  Jantsch, E. Die Selbstorganisation des Universums. München 1979

[xxxv]   ISCRAT (International Standing Conference for the Research in Activity Theory), gegründet 1986 in Berlin. URL: <http://www.iscrat.org>

[xxxvi]   Jantzen, W.: Am Anfang war der Sinn. Marburg 1994

[xxxvii]  Goethe, J.W.: Faust. Der Tragödie erster Teil [Vor dem Tor: Vers 1064/1065]

[xxxviii] Jantzen, W. The evolution of subjective sense. Multidisciplinary Newsletter for Activity Theory (1994) 15/16, 4-8 (dt. in ”Am Anfang war der Sinn” a.a.O.)

[xxxix]   Jantzen, W.: Die Zeit ist aus den Fugen. Marburg 1998

[xl]      Goethe, J.W.: Faust. Der Tragödie erster Teil [Studierzimmer: Vers 1336/1340]

[xli]     Eklektisch-empirische Mehrdimensionalität und der Fall Stutte. Eine methodologische Studie zur Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zeitschrift für Heilpädagogik 44 (1993) 7, 454-472; leicht gekürzte Fassung: Der Fall Stutte und die Stereoskopische Sicht. Forum Wissenschaft (1993) 2, 25-30

[xlii]    Sève, L.: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Frankfurt/M. 1973

[xliii]    Vernadsky, V.I.: The biosphere. New York 1998; Vernadskij, V.I.: Der Mensch in der Biosphäre. Zur Naturgeschichte der Vernunft. Frankfurt/M. 1997

[xliv]    Lotman, J.M.: Über die Semiosphäre. Zeitschrift für Semiotik, 12 (1990) 4, 287-305

[xlv]    Arendt, H.: Macht und Gewalt. München 1970