Wolfgang Jantzen[1]

Sprache, Bewusstsein und Tätigkeit Methodologische Bemerkungen

Sprache und Sprechen nicht aus der Perspektive idealer Hörer-Sprecher sondern in der Wirklichkeit des gesellschaftlichen, sozialen und persönlichen Lebens zu untersuchen – dieses Programm harrt noch seiner Verwirklichung. Für die Sprachwissenschaft hat unlängst Dorothy Robbins (2002) die vorherrschende Untersuchung von abstrakten Individuen außerhalb jeder sozialen Situation von einem Vygotskijschen Standpunkt aus kritisiert. Dies regt mich an, diesen Standpunkt weiter zu entwickeln, indem ich einige methodologische Überlegungen aus Vygotskijs Spätwerk rekonstruiere.

Anknüpfend an der Sichtweise Humboldts, Sprache als Tätigkeit, nicht nur als „ergon“ (Werk) sondern als „energeia“ (Tätigkeit, Wirksamkeit, Kraft, Macht) zu betrachten, bringt Vygotskij einen spinozanisch-monistischen Standpunkt ins Spiel, entgegengesetzt dem cartesianisch-dualistischen, den wir in den Argumentationen von Chomsky und Fodor finden.

Vygotskij zielt auf eine Überwindung des Dualismus von niederen psychischen Prozessen, von der naturwissenschaftlichen Psychologie analysiert, und höheren psychischen Prozessen, von der geisteswissenschaftlichen Psychologie beobachtet und interpretiert. Dies beinhaltet gleichermaßen die Überwindung von Dualismen zwischen Emotion und Kognition, zwischen Struktur und Funktion, zwischen Körper und Geist.

Ansatzpunkt ist es, das Psychische der Menschen als historisch und kulturell vermittelt zu betrachten. Hiermit kommt eine neue Ebene der psychischen Prozesse ins Spiel: Diese bekommen durch die Internalisierung geeigneter sozialer Werkzeuge, insbesondere der Sprache, eine intrapsychisch vermittelte Struktur, werden für das Individuum bewusst und steuerbar. Über der biologischen Basis des Verhaltens entstehen bereits bei Tieren komplexe, durch Erfahrung gebildete psychische Strukturen. An deren Stelle treten bei den Menschen sozial vermittelte historische und kulturelle Erfahrungen (Vygotskij 1985 a; Jantzen 2001 a). Folglich muss an Stelle der Strukturanalyse des Psychischen bei Tieren, entwickelt durch die Gestaltpsychologie, die semantische Analyse, also die Analyse der Entwicklung der Wortbedeutungen treten, um die systemische und semantische, d.h. sozial vermittelte Struktur des menschlichen Bewusstseins zu erfassen (Vygotskij 1997 a, 137).

Um diese Konzeption zu verwirklichen, bedarf es, bei ständiger sorgfältiger Rückkoppelung an die Fakten, eines Übergangs von Beschreibungswissen zu Erklärungswissen und zu Erklärungsprinzipien (vgl. Vygotskij 1985 b). Entscheidend ist, ob Erklärungsprinzipien, welche als elementare Einheit der untersuchten Prozesse deren Ganzheitlichkeit repräsentieren, adäquat gewählt sind. Es erweist sich in der Analyse von Koffkas Strukturpsychologie, dass dessen Erklärungsprinzip „Struktur“ nicht hinreichend die geforderten Eigenschaften hat. Erst die Klärung, dass für die Analyse der Bewusstseinsprozesse die Wortbedeutung die entscheidende Einheit ist, ermöglicht die widerspruchsfreie Entwicklung und Darstellung unterschiedlichster Probleme und Ebenen des Zusammenhangs von Denken und Sprechen. Die Wortbedeutung ist die elementare Einheit von Denken und Sprechen, von Verallgemeinerung und Verkehr, von Kommunikation und Denken (Vygotskij 2002, 52).

Was aber ist die Wortbedeutung? Sie ist ungleich dem Zeichen, in dem sie sich ausdrückt. Das Zeichen wechselt seine Bedeutung in den interfunktionalen Beziehungen, es hat keine feste Bedeutung. Die gleiche Äußerung kann auf verschiedene Bedeutungskontexte verweisen. Ich werde aufmerksam, weil ich die Uhr nicht mehr ticken höre, sehe nach und sage: „Die Uhr fiel herunter“. Ich höre etwas fallen und erfahre: „Die Uhr fiel herunter“. Im ersten Fall ist die Uhr psychologisches und grammatisches Subjekt, im zweiten Fall nur grammatisches Subjekt. Die erstarrte grammatische Kategorie bedarf also ihrer Belebung durch das Herausholen der semantischen Struktur (vgl. Vygotskij 2002, 403 ff, 1997 a).

Das Zeichen selbst ebenso wie das Werkzeug unterscheiden sich von den im Schimpansenexperiment Köhlers durch die Affen verwendeten Werkzeugen dadurch, dass die Affen Stöcke als Werkzeuge nur benutzen, wenn diese sich in ihrem visuellen Feld befinden. „Der Stock (...) hat nicht die Bedeutung eines Werkzeugs“ (a.a.O. 1997 a, 131). Im Gegensatz hierzu orientieren sich Kinder in vergleichbaren Versuchssituationen in ihrem semantischen Feld (a.a.O., 1997 b). Trotzdem ist das Zeichen nicht unmittelbar dem Werkzeug gleichzusetzen. Mit dem vorsorglich mitgenommenen Grabstock als Werkzeug meistert der Urmensch nicht nur die Umwelt. Dieser Stock ist gleichzeitig Zeichen für eine mögliche Zukunft. Mit dieser ist er durch ein Ziel verbunden, dem dieser Stock als Werkzeug untergeordnet ist und für das er ein Zeichen darstellt. D.h. über äußere Zeichen wirkt der Mensch auf sein eigenes Verhalten ein. Diese Prozesse verweisen bereits auf die höhere Form, in der der Mensch sein Verhalten steuert: das Wort (vgl. Vygotskij 1999, 63 ff.).

Die Funktion des Wortes (als Einheit von Zeichen und Bedeutung) ist dabei immer sozial. Indem die Handlung, die Geste, in den sozialen Verkehr hineinragt, wird sie Geste für andere. Sie wandert nach innen als Geste für mich, als Geste mit Wirkung auf andere: gleichgültig ob unmittelbar, über das Wort vermittelt oder über äußere Objekte (ebd. 66 f.). Dies verweist auf das psychogenetische Grundgesetz Vygotskijs: alle höheren psychischen Funktionen existieren zweimal, zunächst intersubjektiv dann intrasubjektiv. Das Denken des Kindes geht aus dem Streit mit anderen hervor, die willkürliche Aufmerksamkeit aus dem Zeigen von Dingen durch andere usw. Insofern ist verständlich, dass die Wortbedeutung Einheit von Kommunikation und Denken ist.

Inwiefern ist sie jedoch Einheit von Verallgemeinerung und Verkehr und von Denken und Sprechen? Im sozialen und sprachlichen Verkehr (also an seinem historischen und kulturellen Ort) erwirbt das Kind die hinter den Zusammenhängen der Sprache stehenden Bedeutungen, indem andere sie in einem Übergangsbereich zwischen Kind und Erwachsenen vergegenständlichen, auf das Verhalten des Kindes einwirken, mit ihm zusammen auf die Welt einwirken usw. Diesen Ort, an dem sich zwei reziproke, analoge Prozesse von unten und oben treffen und vermitteln, nennt Vygotskij „Zone der nächsten Entwicklung“ (a.a.O. 2002, 352 ff). Ihre kooperative Struktur gestattet es dem Kind, Dinge zu tun, die es mit Hilfe anderer, jedoch alleine nicht zu tun vermag. Auf dieser Weise lernt es durch interpsychische Betätigung Verallgemeinerungen extrapsychisch zu nutzen und sich intrapsychisch anzueignen, d.h. zur Steuerung seines Verhaltens zu verwenden. Dies ist nur auf dem Hintergrund des Erlebens des Kindes möglich (Vygotskij 1994), aufgrund seiner emotionalen und motivationalen Bewertung der Situation. Denn es sind die Emotionen, die als zugleich älteste und modernste Mechanismen des Gehirns es gegenüber der Umwelt öffnen und schließen (Vygotskij 2001).

Mit dem Erwerb von situationsunabhängigen Verallgemeinerungen, wie Vygotskij an der Rolle des Spiels zeigt (1997 b), entsteht einer imaginäre Situation, „ein bestimmtes semantisches Feld, welches das gesamte Verhalten des Kindes formt und ihm aufzwingt, in seinen Handlungen und Taten einzig durch diese imaginäre Situation beherrscht zu sein, und nicht durch die visuelle Situation.(a.a.O. 1997 b, 229)

Aber schon vorher, von frühem Beginn an, ist die soziale Einwirkung des Dialogs mit der Mutter auf die Entwicklung des Kindes gegeben (Vygotskij 1994).

Die biologische Grundlage der Entwicklung realisiert sich stufenweise auf ihrer je bisher realisierten Basis immer nur im Kontext von Kommunikation und sozialem Verkehr in der je gegebenen Zone der nächsten Entwicklung (vgl. Vygotskij 1987).

Auf jeder Stufe seiner Entwicklung, in jeder ihrer Phasen stellt ein Kind eine qualitative Einmaligkeit, d.h. eine bestimmte organische und psychologische Struktur dar. Und genau auf dieselbe Weise, stellt ein behindertes Kind einen qualitativ andere, einzigartige Art der Entwicklung dar.“ (Vygotskij 1993 a, 30)

Ein semantisches Feld entsteht auch unter den Bedingungen lautsprachlicher Isolation; so entsteht durch sozialen Verkehr unter gehörlosen Kindern Gebärdensprache „wie durch Selbstzündung“ (Vygotskij 1993 b, 169).

Allerdings stoßen wir hier auf das Problem, dass, ob des Konventionalisierungsgrades dieser Gebärden, nur bestimmte Stufen der Verallgemeinerung und damit auch der Allgemeinheit der Begriffe erreicht werden können. Dies gibt uns die Möglichkeit zu dem Problem der Analyse der Bedeutungen überzugehen.

Eine Bedeutung haben ist das Gleiche, wie in bestimmten Allgemeinheitsrelationen zu anderen Begriffen zu stehen.“ (2002, 363)

Auf jedem Niveau der Entwicklung ist die Bedeutung des Wortes eine Verallgemeinerung (a.a.O. 380). Entsprechend der jeweiligen, im Entwicklungsprozess vorwiegenden Verallgemeinerungsstruktur des Denkens (die eines Vorschulkindes ist anders als die eines Schulkindes, ist anders als die eines Jugendlichen in der Pubertät; vgl. Vygotskij 1987) erschließen die Allgemeinheitsrelationen sich auf verschiedenen Entwicklungsniveaus unterschiedlich. Der Übergang zu einer neuen Stufe, so Vygotskij selbst, kann „nichts anderes bedeuten als die Neubildung aller Wortbedeutungen, die bereits in der anderen Struktur existieren. Eine Sisyphosarbeit.“ (2002, 368).

So „sind in die Allgemeinheitsrelationen von Begriffen in einem gewissen Stadium der Entwicklung kindlicher Wortbedeutungen überhaupt nicht fassbar. Alle Begriffe liegen nur in einer Reihe, sind nebengeordnet“; so im „autonomen Sprechen“ der Kinder im Übergang vom „vorintellektuellen Lall-Sprechen“ zur Beherrschung der Erwachsenensprache (a.a.O. 358), also vom Ende des ersten Lebensjahres bis ins ins dritte Drittel des zweiten Lebensjahres (1987 a, 181-183)

Indem die Wortbedeutungen zu anderen Wortbedeutungen in Relationen treten, realisiert sich durch die Gesamtheit der Wortbedeutungen und ihrer Relationen zunehmend die semantische Struktur des Bewusstseins. Allerdings entsteht diese Struktur nicht unmittelbar aus den Bedeutungen selbst, sondern in komplizierten Prozessen ihrer Entwicklung, für die innere und äußere Gründe verantwortlich sind.

Bedeutungen sind für Vygotskij nicht nur Verallgemeinerungen sondern immer auch Einheiten der Kommunikation (1997 a, 138). Der Fehler Gutzmanns war es, „egozentrisches“ Sprechen und „duzentrisches“ Handeln als Gegensatz zu sehen, nicht vermittelt denken zu können. Er übersah „die Entwicklung der egozentrischen Sprache und der duzentrischen Handlung; eine Verwandlung der sozialen Methode des Verhaltens in eine individuellen Funktion der Anpassung, einer interne Transformation der Handlung mit Hilfe des Wortes, die soziale Natur alle höheren psychischen Funktionen, unter Einschluss der Handlung mithilfe ihrer höheren Formen.“ (1999, 67) Gutzmann übersah damit vor allem, dass die innere Vermittlungsfunktion des Zeichens eine doppelte ist: 1. Kommunikation und 2. Verallgemeinerung. „Denn: jede Kommunikation verlangt Verallgemeinerung.“ (Vygotskij 1997 a, 138) Der soziale Verkehr selbst, in Form der notwendigen Kommunikation zwischen den Menschen macht die Verallgemeinerung notwendig. Die Bedeutungen werden durch ihren sozialen Gebrauch internalisiert, weil sie soziale Funktion haben. Das diskursive Denken des Kindes entsteht ursprünglich aus dem Streit mit anderen (1929/1988). Folglich muss die Wortbedeutung notwendigerweise Einheit von Verallgemeinerung und sozialem Verkehr sein.

Die Semantizität des Bewusstseins kommt nicht nur auf dem Wege der Interiorisation ins Spiel, hier findet sie ihre Voraussetzungen und Mittel. Sie ist vor allem das Resultat einer inneren Entwicklung causa sui, wie wir an der oben zitierten Passage der Entstehung der Sprache wie durch Selbstzündung am Beispiel der Gehörlosen gesehen haben (vgl. auch Vygotskij 1987, 281, 284f.). Alle hierzu notwendigen Momente der Lösung hat Vygotskij im Spätwerk zusammengetragen, ohne jedoch diese Lösung selbst noch gestalten zu können.

In „Denken und Sprechen“ verwendet Vygotskij vor allem die Kategorie „Sinn“ zur Lösung dieser Probleme (a.a.O. 391 ff.). Allerdings hat diese Kategorie hier noch nicht ihre endgültige Form gefunden. Der Gebrauch schwankt einerseits zwischen einem Gebrauch im Sinne der analytischen Philosophie (Frege, Wittgenstein), für die Sinn auf einer höheren Ebene die innere Konfiguration einzelner Referenzpunkte (Bedeutungen) einer Aussage oder eines Aussagengefüges sichtbar macht (a.a.O., 449).

Andererseits findet sich bei Vygotskij gleichzeitig eine Auffassung von Sinn, wonach dieser in letzter Konsequenz in den Emotionen wurzelt. Dies nimmt die spätere Ausarbeitung dieser Kategorie durch A.N. Leont’ev vorweg (ebd.).

In dieser zweifachen Dimension ist Sinn das, was in die Bedeutung eingeht (Vygotskij 1997 a, 136). Zum einen von innen nach außen:

Diese Arbeit des Gedankens ist der Übergang vom Gefühl der Aufgabe, über die Herausbildung der Bedeutung, zum Entfalten der Aufgabe.“ (134).

Denken und Wortbedeutung fallen folglich ebenso wenig zusammen wie die semiotische und die phasische Seite des Satzes. Dies zeigt sich bereits im frühen Sprechen, wo der Einwortsatz, also das erste Wort, in phasischer Hinsicht ein Wort, in semiotischer Hinsicht ein Satz ist. (ebd.; vgl. auch 2002, 402). Hinter der semiotischen Struktur des Satzes (als Text) steht hier bereits die semantische Struktur der Bedeutungen. Sie wird ihrerseits, von innen nach außen betrachtet, durch den Sinn generiert. Insofern die Semantik auf der Basis des Sinns entsteht, d.h. durch die Verallgemeinerung und die Kommunikation von Bedeutungen, hat das Bewusstsein als Ganzes eine semantische Struktur:

Denn Sinn, die Struktur des Bewusstseins, ist die Verbindung mit der externen Welt.“ (1997 a, 137).

Und, in Konstatierung der Gegenbewegung, d.h. der Auswirkungen der aus dem sozialen Verkehr und der Kommunikation stammenden Bedeutungen auf den Sinn, formuliert Vygotskij an gleicher Stelle:

Die Sinn schaffende Aktivität von Bedeutungen führt zu einer bestimmten semantischen Struktur des Bewusstseins selbst.“ (ebd.)

Die Sprache ist folglich kein Korrelat des Denkens sondern ein Korrelat des Bewusstseins und die Semantik ist die Bedeutungsstruktur des Bewusstseins (ebd.). Selbstredend entspricht dieser semantischen Struktur des Bewusstseins die semantische Struktur der sozialen Prozesse.

Das Denken selbst kann jedoch nur auf den Bedeutungsraum einwirken, indem es sich selbst in ihm mit Hilfe der Bedeutungen realisiert. Dies hat seine Ursache darin, dass der Gedanke nicht „die letzte Instanz“ in diesem Prozess ist.

Der Gedanke selbst wird nicht aus einem anderen Gedanken geboren, sondern aus der Motivationssphäre unseres Bewusstseins, die unsere Triebe und Bedürfnisse, unsere Interessen und Strebungen, unsere Affekte und Emotionen umfasst. Hinter dem Gedanken stehen affektive und volitive Tendenzen.“ (2002, 461)

Hinter dem Gedanken stehen also die Emotionen, die nach Auffassung von Vygotskij das Gehirn öffnen und schließen. Dies gilt nicht nur im Handeln oder im Sprechen bezogen auf die äußere Welt sondern auch in der inneren Sprache und im Denken vermittels und im Medium der „inneren“ Sprache. Denn die Entwicklung des Wortes, an deren Anfang die Handlung, unabhängig vom Wort stand, endet damit, dass das Wort selbst zur Handlung wird. Es ist das Wort, „welches die Handlung des Menschen frei macht“ (1999, 68). Das „sinnerfüllte Wort“ als „Mikrokosmos“ unseres Bewusstsein (2002, 468) vermittelt Sinn und Bedeutungen im Drama des Lebens, in ständig neuer Dynamik, ist aber seinerseits selbst von der Quelle der Emotionen abhängig, die das Gehirn für eben jene Aspekte des Bewusstseins und für eben jenes Handeln öffnen müssen.

Diesem Aspekt nähert sich Vygotskij mit der theoretischen Einführung der Kategorie „Erleben“ (pereživanie) als „Analyseeinheit des Bewusstseins“ (1987, 281), die er strikt von ihrem lebensphilosophischen Ursprung bei Dilthey, Scheler u.a. absetzt (vgl. 1996, Kap. 17 -20). Erleben ist im Russischen wie im Deutschen sowohl emotionales wie inhaltliches Erleben der Wirklichkeit, emotional-kognitive Einheit. Insofern stellt Vygotskij in seinem Spätwerk ebenso diese „emotional-kognitive Einheit“ wie die „Einheit des Erlebens“ als fundamentale Einheit psychischer Prozesse heraus (vgl. Jantzen 2001a, Vygotskij 2001, 1994, 1987, 281)

Das Erleben übt einen bestimmenden Einfluss darauf aus, wie dieses oder jenes Moment der Umwelt auf das Kind wirkt.“ ... „Die Umwelt determiniert die Entwicklung des Kindes über dessen Erleben der Umwelt.“ (281 f.)

Was ist nun der Gewinn dieser sehr anspruchsvollen methodologischen Rekonstruktion für die Weiterentwicklung der Sprachbehindertenpädagogik? Methodologie im Sinne Vygotskijs (1985) zielt auf eine allgemeine Theorie des Gegenstandes, die sich der adäquaten begrifflichen Justierung des empirischen wie theoretischen Wissens widmet und auf diesem Hintergrund neue Fragestellungen und Praxen generieren kann. Es geht also um eine „unifing theory“ ähnlich der vergleichbaren Debatten in der Physik, aber auch in verschiedenen anderen Wissenschaftsbereichen.

Liest man Vygotskijs, A.N. Leont’evs und Lurijas Vorleistungen in dieser Hinsicht, so eröffnet sich das Bild einer restlos relationalen, restlos historischen, nicht-cartesianischen Theorie der Sprache. Gänzlich in der Gegenwart – aber über die Zeichenstruktur des semantischen Felds im Bewusstsein immer mit der Zukunft verbunden – verknüpft die Sprache als Korrelat des Denkens die semantische Struktur des Bewusstsein mit der semantischen Struktur der sprachlichen Welt. Im einfachsten Fall ist dies die semantische Struktur eines anderen Bewusstseins, im allgemeinsten Sinne ist es die gesamte, im Denken der Menschheit in Vielzahl und Differenz prozessierte Bedeutungsstruktur, die Semantizität des gesellschaftlichen Prozesses.

Die Sprache ist hierbei im Sinne Humboldts zum einen „ergon“, d.h. Werkzeug. In ihrer Werkzeugfunktion macht sie die Raumzeitstruktur des jeweiligen, d.h. des vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Geschehens abbildbar. Dies geschieht notwendig über die sinnliche Repräsentation im grammatisch-syntaktischen Körper der Sprache. Der von Luria (1982) als Beispiel für sprachliche Inversion gegebene Satz „Den Wanja haut der Kolja“ erlaubt die Entzifferung der inversen Zeitstruktur. Handlungsträger II steht vor Handlungsträger I, nur durch die Kontrastdifferenzierung in der Nominativ- und Akkusativvariante des Prono mens, also nur durch Vertauschung von „n“ und „r“ ist seine syntaktische Dekodierung möglich.

Diese Ebene wird durch die strukturalistische Grammatik- und Syntaxtheorie hervorragend beschrieben. Sie beschreibt die Oberflächenstruktur der Sprache und die Möglichkeit ihrer Generierung aus einem formalen Regelwerk der Sprache, dargestellt als Regelwerk des idealen Hörer-Sprechers und präsent in einer Tiefenstruktur.

Vygotskijs Überlegungen zeigen sehr deutlich, dass die Semantik jedoch nicht von der Sprache kodiert wird. Die Sprache trägt die Semantik in sich. Jenseits der Sinnlichkeit der Sprache entsteht die Semantik erst im Korpus der Wortbedeutungen im Bewusstsein. Vermittels des sinngeleiteten Denkens entsteht sie als Netz von Knotenpunkten in einem amodalen Raum, jenseits der Sinnlichkeit der Sprache. Die Sprache trägt über die zeitliche Struktur ihrer Abfolgen die Welt in sich, ebenso wie dies für die nichtsprachlichen Wahrnehmung resp. Handlungen gilt. Daher vermag sie die Grundlage für ein Abbild der Wirklichkeit der Welt im Bewusstsein zu liefern, das sich immer erneut in Einheit und Widerspruch mit der Semantizität der gesellschaftlichen Prozesse herausbildet. Die Kommunikation, der soziale Verkehr verlangen die Verallgemeinerung und die Verallgemeinerung verlangt den sozialen Verkehr.

Die spezifische Übersetzungsproblematik tritt zwischen psychologischem Subjekt und grammatischem Subjekt, zwischen semantischer Syntax und phasischer Syntax auf.

Die Grammatik des Sprechens fällt nicht mit der Grammatik des Denkens zusammen.“ (1997 a, 133)

Die semiotische Ebene beschreibt dabei die Verbindung von Zeichen und Inhalt, also die Genesis von Texten. Die grammatisch-syntaktische Ebene beschreibt die Verbindung von Zeichen und Form. Und ähnlich wie der hinter den Bedeutungen stehende Sinn in den Motiven und dann im Denken sich ebenso ausdrückt wie nach neuen Formen des Ausdrucks sucht, so zielt die semantische Syntax, die sich in der semiotischen Form des Textes oder des Satzes ausdrückt, auf die Darstellung des Inhalts. Dies kann jedoch nur mittels der wohlbestimmten Form des sprachlich mehr oder weniger konventionalisierten Satzes, also der phasischen Syntax gelingen.

In semiotischer Hinsicht ist nach Lotman (1990) jede Kommunikation sowohl Produktion von Texten als auch Übersetzung auf der Basis spiegelsymmetrischer Strukturen. In dieser Hinsicht ist die Sprache als „ergon“ zugleich allgemeines Werkzeug mittels dessen Bewusstseine untereinander Bedeutungen erschließen können. Spiegelsymmetrie bedeutet jedoch nicht nur und manchmal auch weitgehend überhaupt nicht Symmetrie von idealen Hörer-Sprechern, sondern im Sinne eines über Buber und Spitz gewonnenen modernen Dialogbegriffs (vgl. Jantzen 2001 b) auch immer Anerkennung, Bindung und Sicherheit, eine spiralförmige Reziprozität, die soziales und symbolisches Kapital garantiert, sozialen und symbolischen Tausch von Verkehrsformen sichert (Bourdieu).

Insofern ist die Sprache andererseits immer nur als Tätigkeit zur verstehen, ist sie nicht nur „ergon“ sondern „energeia“. Sie ereignet sich immer aus dem je gegebenen Erleben heraus, ist als Korrelat des Bewusstseins Mittel ebenso wie Kristallisationsort des Denkens, das durch seine innere wie äußere Versprachlichung zu sich selbst gelangt.

„Das Wort vergaß ich, das ich sagen wollte,
Der körperlose Gedanke kehrt ins Schattenschloss zurück“

Diese Verse aus einem Gedicht von Mandel’štam stellt Vygotskij dem letzten Kapitel von Denken und Sprechen voran (a.a.O. 387). Wenn es aber die Emotionen sind, die das Gehirn öffnen und schließen, so ist es sind es Anerkennung im Sinne Hegels bzw. Dialog im Sinne von Buber ebenso wie von Spitz oder der modernen Bindungsforschung, die es dem körperlosen Gedanken ermöglichen, das Schattenreich zu verlassen und sich im Licht der Semantizität des Bewusstseins zu realisieren, ein Licht das allein durch die Humanisierung der Austauschprozesse ins Bewusstsein getragen wird. Denn dieses öffnet sich umso mehr im sozialen Verkehr für die Bedeutungen der Welt, je mehr das Subjekt humane Anerkennung erfährt. Die Herausbildung der Sprache als Medium der Bewegungen im Bewusstsein, Bedingung der Möglichkeit reichhaltiger Bedeutungen, ist in dieser Hinsicht Folge der Anerkennung und nicht ihre Voraussetzung.

Dies verlangt – und nun endlich bin ich an meinem Resümee für die Sprachheilpädagogik – nicht nur ein gänzliches Neuverständnis der Sprachprozesse, also eine wissenschaftliche Revolution im Sinne einer postrelativistischen Wende, sondern vor allem auch restlosen Verzicht auf Techniken der Behandlung zugunsten von Formen gemeinsam-geteilter gegenständlicher Tätigkeit.

 

Literatur

Bourdieu, P.; Wacquant, L.J.D.: Reflexive Anthropologie. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1996.

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Jantzen, W.: Der Dialog aus Sicht der Tätigkeitstheorie und der Theorie der Selbstorganisation. Mitteilungen der Luria-Gesellschaft, 8 (2001) 2, 41-54 (b).

Lotman, J. M.: Über die Semiosphäre. Zeitschrift für Semiotik, 12 (1990) 4, S. 287-305.

Luria, A.R.: Sprache und Bewusstsein. Köln (Pahl-Rugenstein) 1982.

Robbins, Dorothy: Vygotsky's psychology-philosophy: a metaphor for language theory and learning. New York (Kluwer Academic) 2001.

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Vygotskij, L.S.: Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung. In: Vygotskij, L.S. : Ausgewählte Schriften Bd. 1. Köln (Pahl-Rugenstein) 1985, 57-278.

Vygotskij , L.S.: Ausgewählte Schriften Bd. 2. Köln (Pahl-Rugenstein). 1987.

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Vygotskij, L.S.: Die Lehre von den Emotionen. Eine psychologiehistorische Untersuchung. Münster (LIT-Verlag) 1996.

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Vygotskij, L.S.: Preface to Koffka. In: Vygotskij, L.S. : The collected works. Vol. 3. Eds. R.W. Rieber & J. Wollock. New York (Plenum) 1997, 195-232 (b).

Vygotskij, L.S.: Tool and Sign in the Development of the Child. In: Vygotskij, L.S. : The Selected Works. Vol. 6. Scientific legacy. Ed. R.W. Rieber. New York (Plenum) 1999, 3-68.

Vygotskij, L.S.: Das Problem des geistigen Zurückbleibens. In: Jantzen, W. (Hrsg.): Jeder Mensch kann lernen - Perspektiven einer kulturhistorischen (Behinderten-)Pädagogik. Neuwied, Berlin (Luchterhand) 2001, 135-163.

Vygotskij, L.S.: Denken und Sprechen. Weinheim (Beltz) 2002.

 



[1] Vortrag auf dem Symposium zur Verabschiedung von G. Homburg am 14.7.2004; ausführliche schriftliche Fassung in: Sprache, Bewusstsein und Tätigkeit   Methodologische Bemerkungen. In: Ulrike Lüdtke (Hrsg.): Fokus: Mensch - Subjektzentrierte Modellbildungen in der Sprachbehindertenpädagogik. Rimpar (Edition von Freisleben) 2004, 155-171.